Der Apfelbaum

John Galsworthy (1916)

Deutsche Übersetzung erschienen 1950 im Paul Zsolnay Verlag, Wien. Übersetzer unbekannt.


John Galsworthy in der deutschen Wikipedia-Enzyklopädie

Scan und Aufbereitung: Herbert Thiess, München, 2005


Sigmund Freud schreibt 1930 im Kapitel IV von "Das Unbehagen in der Kultur" in einer Fußnote:

"Unter den Dichtungen des feinsinnigen Engländers J. Galsworthy, der sich heute allgemeiner Anerkennung erfreut, schätzte ich früh eine kleine Geschichte, betitelt: 'The Apple Tree'. Sie zeigt in eindringlicher Weise, wie im Leben des heutigen Kulturmenschen für die einfache, natürliche Liebe zweier Menschenkinder kein Raum mehr ist."



"Der Apfelbaum, das Lied, die goldne Jugend."

Aus Gilbert Murrays 'Hippolytos des Euripides'


Am Tage ihrer silbernen Hochzeit fuhren Ashurst und seine Frau im Auto das Heidemoor entlang; sie wollten als würdigen Abschluß ihres Festes die Nacht in Torquay verbringen, wo sie sich kennengelernt hatten. Es war der Einfall Stella Ashursts gewesen, die ein wenig sentimental veranlagt war. Freilich hatte sie schon lange den blumenhaften Reiz ihres blauäugigen Mädchengesichts, die jugendschlanke Anmut der Gestalt, den zarten Apfelblütenteint verloren, alles, was Ashurst vor sechsundzwanzig Jahren so seltsam bezaubert hatte. Dennoch war sie mit ihren dreiundvierzig nicht nur ein treuer Kamerad, sondern noch eine hübsche Frau, wenn auch ihre Wangen nun von Äderchen durchzogen waren und der Blick ihrer graublauen Augen Reife verriet.

Sie ließ den Wagen dort halten, wo zur Linken die Gemeindewiese steil anstieg und zur Rechten sich ein schmaler Streif von Lärchen, Buchen und vereinzelten Fichten gegen das Tal hinzog, das zwischen der Straße und dem ersten langgestreckten, hohen Hügel des offenen Heidemoores lag. Sie hielt Ausschau nach einem geeigneten Platz, wo sie lunchen könnten, denn Ashurst kümmerte sich nie um derlei Dinge. Hier, inmitten des goldnen Ginsters und der zartgefiederten grünen Lärchen, die in der Sonne des Spätapril einen leichten Limonenduft ausströmten, gefiel es ihr - diese Stelle mit dem Ausblick auf das tiefe Tal und den Hügel des Heidemoors musste einer Frau von entschiedenem Naturell, die Aquarelle malte und romantische Gegenden liebte, gleich geeignet erscheinen. Sie nahm ihren Malkasten und stieg aus dem Wagen.

"Sollen wir nicht hier bleiben, Frank?"

Ashurst glich Schiller, bis auf den Bart; er war groß, langbeinig, an den Schläfen ergraut, hatte große, auseinanderliegende Augen, die mitunter durch ihren ausdrucksvollen Blick fast schön aussahn, eine etwas schiefe Nase und unter dem Schnurrbart halbgeöffnete Lippen; ein schweigsamer Mensch von achtundvierzig Jahren. Er ergriff den Eßkorb und stieg ebenfalls aus.

,Ach, Frank, sieh doch, ein Grab!"

Ein Fußweg lief die Gemeindewiese herab, schnitt die Landstraße im rechten Winkel und führte durch eine Zauntür das schmale Wäldchen entlang. Neben der Straße, wo der Pfad sie kreuzte, lag ein grasbewachsener kleiner Hügel, sechs Fuß lang und einen breit, und an seinem Kopfende, nach Westen zu, erhob sich ein Steinblock des Heidemoors, auf den jemand einen Schlehdornzweig und eine Handvoll Glockenblumen gestreut hatte. Ashurst sah hin und der Dichter in ihm erwachte. Ein Kreuzweg - das Grab eines Selbstmörders! Die armen Sterblichen in ihrem Aberglauben! Doch wer immer da begraben lag, hatte es gut getroffen - keine dumpfe Stätte zwischen scheußlichen Grabsteinen mit eingemeißelten leeren Phrasen, nur ein unbehauner Steinblock, der weite Himmel und des Wandrers stiller Gruß. Er hatte gelernt, im Kreis seiner Familie auf das Philosophieren zu verzichten, und stieg daher schweigend die Wiese hinan, stellte den Eßkorb neben eine Mauer, breitete für seine Frau eine Decke zum Sitzen aus - sobald sie beim Malen Hunger bekam, würde sie herkommen - und zog aus der Tasche Murrays Übersetzung des 'Hippolytos'. Bald jedoch hörte er auf, von Aphrodite und ihrer Rache zu lesen, und blickte zum Himmel empor. Und wie er so den weißen Wolken nachsah, die sich hell vom leuchtenden Blau abhoben, kam ihm ein Sehnen, heute, an seinem Hochzeitstag, kam ihm ein Sehnen - wonach? Die Natur des Mannes paßte sich dem Leben doch nie so recht an! Mochte man auch ein reines, ehrenhaftes Dasein führen, nie konnte man sich von heimlicher Gier, von unbestimmtem Verlangen befrein, nie von der Angst, etwas zu versäumen.

Ob es wohl den Frauen auch so erging? Wer konnte das sagen? Männer jedoch, die ihrem Trieb nach neuem Erleben frönten, ihrem rebellischen Drang nach neuen Abenteuern, neuen Gefahren, neuen Genüssen, die litten sicher unter dem anderen Extrem, der Übersättigung. Da gab es kein Entrinnen - wie schlecht passte sich der zivilisierte Mann doch dem Leben an! Der Garten mit dem 'Apfelbaum, dem Lied, der goldnen Jugend', wie es in jenem schönen griechischen Chore hieß, der blieb ihm unerreichbar. Für einen Mann mit Schönheitssinn gib es keine Insel der Seligen auf Erden, nichts, was sich mit der Schönheit vergleichen ließe, die für ewig in ein Kunstwerk gebannt ist und den Betrachter oder Leser stets wieder mit köstlicher Ruhe und trunkenem Entzücken erfüllt. Wohl hatte das Leben Augenblicke von solcher Schönheit, von unverhoffter, flüchtiger Ekstase, aber sie verflogen so rasch, wie eine Wolke über die Sonne huscht; unmöglich, sie einzufangen und festzuhalten, wie die Kunst das Schöne. So schnell entschwanden diese Augenblicke, wie plötzlich goldnes Licht aus dem Gewölk hervorbricht und uns Seele und heimliches Leben der Natur für einen flüchtigen Moment enthüllt. Hier, wo die Sonne ihm heiß ins Antlitz schien, ein Kuckuck aus dem Dornbusch rief und in den Lüften der Honigduft des Ginsters schwebte, hier zwischen dem jungen Farnkraut und den Blütensternen des Schlehdorns, unter den leuchtenden Wolken, die hoch oben über die Hügel und träumenden Täler zogen, hier ward ihm solch ein flüchtiger Blick zuteil. Doch gleich würde alles wieder vorbei sein, verschwunden wie das Antlitz des Pan - er lugt hinter einem Felsen hervor und ist auch schon wieder dem neugierigen Auge entschwunden. Diese Gegend mußte er kennen, diese Wiese, dieses Straßenband und die alte Mauer dahinter. Während der Fahrt war er wie gewöhnlich in sich versunken gewesen, hatte an weitabliegende Dinge oder an gar nichts gedacht - jetzt aber erkannte er, wo er sich befand. Vor sechsundzwanzig Jahren, um dieselbe Zeit, hatte er sich von jenem Bauernhof, der kaum eine Viertelstunde von hier entfernt lag, für einen Tagesausflug auf den Weg nach Torquay gemacht und war nicht wieder zurückgekehrt. Da ward ihm plötzlich weh ums Herz; unerwartet lebte einer jener Augenblicke aus seiner Vergangenheit wieder auf, deren Schönheit und Verzückung er nicht hatte festhalten können, die auf leisen Schwingen davongeflattert waren ins Unbekannte; unerwartet stieß er jetzt auf eine längst begrabene Erinnerung an eine wildbewegte, selige Zeit, die allzu bald ein jähes Ende gefunden. Er wandte sich um, stützte das Gesicht auf die Hände und starrte auf den Rasen nieder, wo die kleinen blauen Sternblumen wuchsen...

Und das ganze Erlebnis fiel ihm ein.



I

Am ersten Mai, nach ihrem letzten gemeinsamen Universitätsjahr, waren Frank Ashurst und sein Freund Robert Garton auf einer Fußtour unterwegs. Sie kamen an jenem Tag von Brent und wollten nach Chagford; aber Ashursts Knie hatte, infolge einer Verletzung beim Fußballspiel, versagt, und nach der Karte waren noch etwa elf Kilometer zurückzulegen. Sie saßen auf einem Abhang an der Landstraße, dort wo ein Pfad, der längs des Waldes lief, die Straße kreuzte; Ashurst ließ das verletzte Knie ausruhn, und nach Art junger Leute schwatzten die beiden von den tiefsten Problemen der Menschheit. Beide waren über sechs Fuß und dünn wie Latten. Ashurst war blaß, ideal gesinnt und schien immer in höhern Regionen zu schweben, Garton jedoch war ein seltsamer, pfiffiger Bursche, sehnig und wuschelhaarig wie ein Tier aus der Urzeit. Beide hatten literarische Neigungen und liefen ohne Hut herum. Ashursts weiches, welliges Blondhaar stellte sich über den Schläfen ein wenig auf, als schüttle er es oft zurück; Garton hatte einen dunklen Haarwuchs. Meilenweit waren sie keiner Seele begegnet.

"Mein lieber Junge", erklärte Garton, "die Wurzel des Mitleids ist Selbstbespiegelung; es ist eine Krankheit der letzten fünftausend Jahre. Ohne Mitleid waren die Menschen glücklicher."

Ashurst sah den Wolken nach und meinte: "Es ist ja doch die Perle in der Meerestiefe."

"Mein Lieber, unser ganzes heutiges Elend rührt vom Mitleid her. Sieh dir die Tiere und die Indianer an, die nur unter dem eigenen Mißgeschick leiden; und dann sieh uns an - uns plagt beständig andrer Leute Zahnweh. Wir müssen es wieder verlernen, fremde Schmerzen mitzuleiden, dann wird es uns besser gehn."

"Das wirst du ja doch nicht zuwege bringen."

Garton wühlte nachdenklich in seinem Haarwald.

"Allzu viele Bedenken verhindern die volle Entfaltung der Persönlichkeit. Das Gefühlsleben zu unterdrücken, ist verfehlt. Jedes starke Gefühl ist wertvoll und bereichert das Leben."

"So, auch wenn es zu einer unritterlichen Handlung führt?"

"Ha, echt englisch gedacht! Wenn von Gefühlen die Rede ist, glauben die Engländer immer, es handle sich um etwas Sinnliches, und sind entrüstet. Sie fürchten die Leidenschaft, aber nicht die Lust - wenn sie's nur geheimhalten können."

Ashurst gab keine Antwort; er hatte eine blaue Blume gepflückt und drehte sie lässig zwischen den Fingern. Ein Kuckuck rief aus einem Dornbusch. Himmel, Blumen, Vogelsang! Robert plapperte Unsinn!

"Also gehn wir weiter", sagte Ashurst, "und suchen wir einen Bauernhof, wo wir Unterkunft finden." Bei diesen Worten sah er ein Mädchen von der Gemeindewiese herabkommen. Ihre Gestalt hob sich scharf vom Himmel ab; in der Hand trug sie einen Korb, und zwischen dem gebogenen Arm und dem Körper war der blaue Himmel sichtbar. "Wie anmutig!" fuhr es Ashurst durch den Sinn - stets genoß er das Schöne ohne eigennützige Gedanken. Der Wind schlug ihr den dunklen Friesrock um die Beine und blähte ihre abgenutzte pfaublaue Wollmütze; die graue Bluse war alt und abgetragen, die Schuhe aufgeplatzt, die kleinen Hände rauh und rot, der Hals sonngebräunt. Das zerzauste dunkle Haar hing ihr in die breite Stirn, das Gesicht war klein, die kurze Oberlippe ließ die Zähne hervorschimmern, Brauen und Wimpern waren lang und dunkel, die Nase gerade. Aber das Wunderbare an ihr waren die grauen Augen, so taufrisch, als hätten sie sich zum erstenmal aufgetan. Sie blickte Ashurst an - er kam ihr vielleicht seltsam vor, wie er so ohne Hut mit zurückgeworfnem Haar auf sie zuhinkte und seine großen Augen auf ihr ruhen ließ. Da er einen nicht vorhandnen Hut nicht ziehen konnte, hob er zum Gruß die Hand und fragte:

"Bitte, ist hier in der Nähe ein Bauernhof, wo wir übernachten könnten? Ich hab mir das Knie verletzt."

"Unser Hof ist weit und breit der einzige, junger Herr." Sie sprach ohne Schüchternheit, mit angenehm klingender, frischer Stimme.

"Und wo ist Ihr Hof?"

"Dort unten."

"Könnten Sie uns beherbergen?"

"Oh, ich glaub schon."

"Wollen Sie uns den Weg zeigen?"

"Ja, junger Herr."

Schweigend hinkte er weiter, dann nahm Garton sie ins Gebet.

"Sind Sie aus Devonshire?"

"Nein, junger Herr."

"Woher denn?"

"Aus Wales."

"Aha, Sie stammen von Kelten - hab mir's doch gleich gedacht. Der Hof gehört also nicht Ihnen?"

"Meiner Tante."

"Und Ihr Onkel?"

"Der is tot."

"Wer führt die Wirtschaft?"

"Meine Tante und meine drei Vettern."

"Aber Ihr Onkel war aus Devonshire?"

"Ja, junger Herr."

"Leben Sie schon lange hier?"

"Sieben Jahre."

"Und wo gefällt es Ihnen besser, hier oder in Wales?"

"Ich weiß nicht recht."

"Wahrscheinlich erinnern Sie sich nicht mehr an Wales?"

"0 doch, aber es is ganz anders."

"Das will ich meinen!"

Da mischte sich Ashurst ins Gespräch:

"Wie alt sind Sie?"

"Siebzehn, junger Herr."

"Und wie heißen Sie?"

"Megan David."

"Mein Freund hier heißt Garton und ich Frank Ashurst. Wir wollten nach Chagford."

"Tut mir das aber leid, daß Ihnen das Bein so weh tut."

Ashurst lächelte; beim Lächeln wurde sein Gesicht fast schön.

Sie gingen bergab, an dem Gehölz vorbei, und standen plötzlich vor dem Bauernhaus, einem langen, niedern Steinbau mit Schiebefenstern, inmitten eines Hofs, in dem sich Schweine, Geflügel und eine alte Stute herumtrieben. Dahinter lag ein steiler, grasbewachsener Hügel, dessen Spitze einige Hochlandsföhren krönten; vor dem Hause zog sich ein Obstgarten bis zu einem Bach und einer weiten, üppigen Wiese hin; die alten Apfelbäume standen in der ersten Blüte. Ein kleiner Junge mit schiefliegenden dunklen Augen hütete ein Schwein; an der Haustür stand eine Frau, die dann auf sie zukam. Das Mädchen erklärte:

"Das is Mrs. Narracombe, meine Tante."

'Mrs. Narracombe, meine Tante' hatte lebhafte, dunkle Augen und einen geschmeidigen, beweglichen Hals wie eine Wildentenmutter.

"Wir haben Ihre Nichte auf der Landstraße kennengelernt", sagte Ashurst: "sie meint, wir könnten hier vielleicht übernachten."

Mrs. Narracombe musterte die beiden vom Scheitel bis zur Sohle und erwiderte:

"Na, meinetwegen, wenn Sie in einem Zimmer schlafen wollen. Megan, richte die Kammer her und eine Schale Rahm. Sie werden jetzt Tee trinken wollen?"

Das Mädchen verschwand ins Haus, über dessen Eingang sich zwei Eibenbäume und einige blühende Johannisbeersträucher wölbten; ihre pfaublaue Tellermütze hob sich leuchtend von den hellrosa Blüten und dem dunkelgrünen Eibenlaub ab.

"Wollen Sie nicht in die gute Stube kommen und Ihr Bein ausstrecken? Sie sind wohl Studenten?"

"Das waren wir, nun haben wir das Studium beendet."

Mrs. Narracombe nickte verständnisvoll.

Die gute Stube hatte einen Ziegelsteinboden; ein ungedeckter Tisch, ein wachstuchbespanntes, roßhaargepolstertes Sofa und ebensolche Stühle standen darin; das Zimmer schien nie benutzt zu werden, so schrecklich sauber sah es aus. Ashurst setzte sich sofort aufs Sofa und schlang die Hände um das lahme Knie; Mrs. Narracombe starrte ihn an. Er war der einzige Sohn eines verstorbenen Chemieprofessors, aber man hielt ihn nicht selten für einen Adeligen, weil er oft von den Anwesenden nicht die geringste Notiz nahm.

"Gibt es hier einen Bach, in dem man baden kann?"

"Am Ende des Obstgartens is ein Bach, aber er wird Ihnen kaum bis ans Knie reichen."

"Wie tief ist er?"

"Na, ungefähr anderthalb Fuß."

"Ausgezeichnet! Wie kommen wir hin?"

"Den Heckenweg hinunter, dann durch die zweite Zauntür rechts; dort steht ein einzelner großer Apfelbaum und daneben is der Badeplatz. Forellen gibt es auch dort, vielleicht gelingt es euch, sie herauszukitzeln."

"Die werden wohl eher uns kitzeln."

Mrs. Narracombe lächelte. "Wenn Sie zurückkommen, is der Tee fertig."

Der Badeplatz, der an einem vorspringenden Felsen lag, hatte sandigen Grund; und der große Apfelbaum am Ende des Obstgartens stand so nahe am Wasser, daß seine Zweige fast darüberhingen; er war schon belaubt, die ersten rosa Blütenknospen begannen sich eben zu erschließen. Der enge Platz bot nur für einen Badenden Raum, und Ashurst wartete, bis die Reihe an ihn kam, rieb sich das Knie und blickte auf die üppige Wiese, die mit Steinblöcken, Dornbüschen und Feldblumen übersät war, und auf den flachen, buchenbewaldeten Hügel dahinter. Alle Zweige wiegten sich im Wind, alle Vögel sangen, Sonnenkringel tanzten auf den Frühlingsgräsern. Er dachte an die Idyllen Theokrits und an die Tage in Oxford, an den Mond und das Mädchen mit den taufrischen Augen; er dachte an so viel tausenderlei und an nichts und fühlte sich über die Maßen glücklich.



II

Nach einem späten, ausgiebigen Tee mit Eiern, Sahne, Marmelade und dünnen, frischgebackenen, gewürzten Keks ließ Garton einen Vortrag über die Kelten vom Stapel. Zu jener Zeit begann gerade das Nationalgefühl der Kelten zu erwachen; und da er sich selbst für einen Kelten hielt, hatte ihn die Entdeckung keltischen Blutes in dieser Familie stark erregt. Auf einem Roßhaarsessel lümmelnd, eine Zigarette zwischen den geschwungenen Lippen, bohrte er seinen kalten, nadelscharfen Blick in Ashursts Augen und erging sich in Lobsprüchen auf die vornehme Art der Waliser. Von Wales nach England gehn, hieß Porzellan gegen Steingut tauschen! Frank, als verdammter Engländer, hatte den Gefühlsreichtum und Adel dieses Keltenmädchens natürlich nicht gewahrt. Und während er in seinem noch vom Bade feuchten Haarwust wühlte, erklärte er Ashurst, sie gleiche zum Verwechseln einer der Gestalten des walisischen Barden Morgan von Dingsda aus dem zwölften Jahrhundert.

Ashurst lag der Länge nach auf dem Roßhaarsofa, über dessen Rand seine Beine ein gut Stück hinausragten, und rauchte eine dunkelfarbne Pfeife; er hörte gar nicht zu, sondern dachte an die Züge des Mädchens, wie es vorhin eine neue Ladung Keks hereingebracht hatte. Unbekümmert hatte er sie betrachtet, wie etwa eine Blume oder eine andre Naturschönheit - da war sie auf einmal leicht zusammengeschauert und gesenkten Blicks mäuschenstill hinausgegangen.

"Gehn wir in die Küche", meinte Garton, "und sehn wir sie uns noch ein wenig an."

Die Küche war ein weißgetünchter Raum; Blumentöpfe standen auf der Fensterbank, an den Balken der Decke hingen geräucherte Schinken, an den Wänden Flinten, sonderbar geformte Krüge, Porzellan, Zinngeschirr und Bildnisse der Königin Viktoria. Auf einem langen schmalen Tisch aus rohem Holz standen Schüsseln mit Löffeln, darüber war eine Schnur mit aufgereihten Zwiebeln gespannt; zwei Schäferhunde und drei Katzen lagen faul hingestreckt. An der einen Seite des eingebauten offenen Herdes saßen müßig zwei kleine lammfromme Jungen, an der andern ein stämmiger, helläugiger, rotbackiger Bursche; seine Haare und Wimpern hatten ungefähr die gleiche Farbe wie das Werg, das er durch den Lauf einer Flinte zog. Mrs. Narracombe in der Mitte rührte träumerisch in einem großen Topf ein angenehm duftendes Gericht. Zwei andre Burschen, die ebenso wie die beiden kleinen Jungen dunkles Haar, schiefliegende Augen und pfiffige Mienen hatten, rekelten sich schwatzend an der Wand; beim Fenster saß ein kleiner, ältlicher, glattrasierter Mann in braunem Kordanzug, ganz vertieft in eine zerlesene Zeitung. Einzig Megan war an der Arbeit, zapfte Apfelwein aus dem Faß in die Krüge und stellte sie auf den Tisch.

Offenbar wollten die Leute ihre Mahlzeit nehmen; Garton sagte:

"Wenn Sie erlauben, kommen wir nach dem Abendessen wieder", und ohne eine Antwort abzuwarten, zogen sich beide in die gute Stube zurück. Doch das bunte Bild der Küche, ihre Wärme, der Speisenduft und die vielen Gesichter ließen das blank gescheuerte Zimmer noch ungemütlicher erscheinen, und verstimmt nahmen sie Platz.

"Unverfälschter Zigeunertyp, diese Jungen. Bloß ein Angelsachse, der Bursch mit der Flinte. Dieses Mädchen ist für den Psychologen ein hochinteressantes Studienobjekt."

Ashursts Lippen zuckten verächtlich. Garton kam ihm in diesem Augenblick wie ein Esel vor. Interessantes Studienobjekt! Eine wilde Blume war sie! Ein herzerfreuender Anblick. Studienobjekt!

Garton fuhr fort:

"Ein prachtvolles Temperament scheint dieses Mädel zu haben, nur muß man es freilich erst wecken."

"Willst etwa du sie wecken?"

Garton blickte ihn an und lächelte. "Wie ordinär! Echt englisch!" schien sein überlegenes Lächeln zu sagen.

Ashurst paffte Rauchwolken aus seiner Pfeife. Sie wecken! Wahrlich, dieser Narr bildete sich nicht wenig ein! Er öffnete das Fenster und beugte sich hinaus. Immer tiefer fielen die Schatten der Abenddämmerung. Die Wirtschaftsgebäude und der Schuppen verschwammen in bläulichem Nebel, die Apfelbäume schienen nur noch ein dunkles Gewirr von Ästen. Vom Küchenherd kam der Rauch brennender Scheite. Ein Vogel, der später zur Ruhe ging als seine Gefährten, ließ ein zaghaftes Zwitschern hören, als habe ihn das Dunkel überrascht. Aus dem Stall drang das Schnauben und Stampfen eines Pferdes an der Krippe. Und dort dehnte sich weit das Heidemoor, und weiter noch schimmerten schüchtern die Sterne; matt blinkten sie am blauschwarzen Himmel, noch nicht in vollem Glanze erstrahlend. Eine Eule erhob ihren krächzenden Ruf. Ashurst atmete in vollen Zügen die Luft ein. Eine herrliche Nacht zum Wandern! Ein Trappeln unbeschlagener Hufe kam den Heckenweg herauf, drei verschwommene dunkle Gestalten huschten vorüber - Fohlen auf ihrem abendlichen Lauf. Über dem Zaun tauchten ihre schwarzen Köpfe mit den zerzausten Mähnen auf. Er klopfte seine Pfeife aus, daß die Funken stoben, da scheuten sie zurück und sprangen davon. Eine Fledermaus flatterte vorbei mit dem leisen Rufe "Tschip tschip". Ashurst streckte die Hand aus dem Fenster; auf der Handfläche konnte er den Tau spüren. Plötzlich hörte er von oben hohe Kinderstimmen, das Auffallen hingeworfener Kinderschuhe und dann eine andere Stimme, sanft und frisch, die des Mädchens. Offenbar brachte sie die Jungen zu Bett. Ashurst fing neun Worte auf: "Nein, Rick, die Katze darf nicht mit ins Bett!" Dann gab es Kichern und Glucksen, eine Balgerei, einen sanften Schlag, ein Lachen, so leise und angenehm, daß ihn ein leichter Schauer überlief. Er hörte, wie jemand die Kerze ausblies, und sah, wie das Kerzenlicht, das von oben durch die Dämmerung drang, erlosch. Dann tiefe Stille. Ashurst trat vorn Fenster fort und setzte sich nieder; das Knie tat ihm weh, sein Gemüt war verdüstert.

"Du geh in die Küche", sagte er, "ich geh zu Bett."



III

Gewöhnlich sank Ashurst, sobald er zu Bett ging, in tiefen, sanften Schlaf, aber heute war er noch völlig wach, als sein Gefährte heraufkam, und stellte sich nur schlafend. Auch als Garton, in die Kissen des zweiten Bettes gewühlt, schon lange andächtig seine Nase zur niedrigen Decke emporstreckte, hörte Ashurst noch immer die Käuzchen durch die Nacht schrein. Abgesehn von dem leichten Schmerz in seinem Knie, war es gar nicht unangenehm, so wach zu liegen - Sorgen drückten diesen jungen Mann in schlaflosen Nächten nicht allzu sehr. Eigentlich hatte er gar keine; er war angehender Rechtsanwalt, elternlos, hatte literarische Neigungen und eine Jahresrente von 400 Pfund; die Welt stand ihm offen. Was lag daran, wohin er ging, was er tat und wann er es tat? Sein Bett war hart, und so blieb er fieberfrei. Er lag da und sog den Duft der Nacht ein, der durch das offene Fenster zu seinen Häupten in das niedrige Zimmer drang. Das einzige, was ihm entschieden auf die Nerven ging, war sein Freund - kein Wunder, nach dreitägiger gemeinsamer Wanderung! Sonst kamen Ashurst in dieser schlaflosen Nacht nur schöne, beschauliche, angenehm erregende Erinnerungsbilder. Das eine, das Gesicht des Burschen mit der Flinte, war besonders deutlich; er konnte sich das nicht erklären, weil er ihm vorhin gar keine Beachtung geschenkt hatte. Er sah wieder den lauernden und doch stumpf erschreckten Blick dieses Burschen nach der Küchentür schweifen und dann rasch zu dem Mädchen mit dem Apfelweinkrug hinübergleiten. Dieses rotbäckige Gesicht mit den blauen Augen, den hellen Wimpern, dem flachsblonden Haar stand ihm so deutlich vor Augen wie das taufrische, liebe Gesicht des Mädchens. Doch endlich sah er durch das dunkle Viereck des vorhanglosen Fensters den Tag herandämmern und vernahm ein heiseres, schläfriges Krächzen. Dann ward es wieder totenstill wie zuvor, bis eine schlaftrunkene Amsel ihren Ruf hören ließ. Ashurst starrte so lange in das Rechteck des Fensters, das immer heller wurde, bis er einschlief.

Am nächsten Tag war sein Knie stark geschwollen; mit der Fußtour war es zweifellos vorbei. Garton, der tags darauf in London sein mußte, verabschiedete sich zu Mittag mit ironischem Lächeln, das Ashurst in leicht gereizte Stimmung brachte; sie verflog jedoch in dem Augenblick, da des Freundes Gestalt mit langen Schritten an der Biegung des steilen Heckenwegs verschwand. Den ganzen Tag über saß er auf einem grüngestrichenen Holzstuhl und schonte sein Knie; hier auf dem kleinen Rasenplatz, unter den überhängenden Zweigen der Eiben, strömten Levkojen und Goldlack im Sonnenschein würzigen Duft aus, in den sich leiser Geruch von Johannisbeerblüten mischte. Er schaute, träumte und rauchte in seliger Ruhe.

Ein Bauernhof im Frühling ist eine Wiege neuen Lebens - aus Knospen und Schalen drängt es ans Licht, und die Menschen sehen erwartungsvoll zu und nähren und behüten die Neugeborenen. So still saß der junge Mann, daß sich eine Gänsemutter mit ihren Jungen ganz nahe an ihn heranwagte. Gemessen watschelte sie einher und die sechs Gänschen mit gelbem Hals und grauem Rücken wetzten die Schnäbel an den Grashalmen zu seinen Füßen. Dann und wann traten Mrs. Narracombe oder das Mädchen auf ihn zu und fragten, ob er etwas brauche, worauf er jedesmal lächelnd erklärte: "Danke, nein. Hier ist's prachtvoll." Vor dem Tee kamen beide heraus; in einer Schüssel brachten sie einen riesigen, mit dunkler Salbe bestrichenen Umschlag, den sie nach langer, gründlicher Untersuchung um sein geschwollenes Knie wickelten. Als sie wieder fort waren, hörte er noch immer des Mädchens sanften Ausruf: "Oh!", sah noch immer ihre mitleidigen Augen und die kleine Falte zwischen den Brauen. Und wieder empfand er dumpfe Gereiztheit gegen seinen Freund, der solchen Unsinn über sie geschwatzt hatte. Als sie ihm den Tee brachte, fragte er:

"Wie hat Ihnen mein Freund gefallen, Megan?"

Sie verzog den Mund, vielleicht um ein Lächeln zu unterdrücken, das sie für unhöflich gehalten hätte. "Er war so komisch, der junge Herr, wir haben lachen müssen. Er is wohl sehr gescheit."

"Was hat Sie denn zum Lachen gereizt?"

"Er hat gemeint, ich wär eine Tochter der Barden. Was sind denn die?"

"Walisische Dichter, die vor vielen hundert Jahren lebten."

"Und warum soll ich ihre Tochter sein?"

"Er meinte, Sie glichen den Mädchen, die jene Barden besangen."

Sie runzelte die Stirn. "Der Herr scheint ein Spaßvogel zu sein. Seh ich denn wirklich so aus?"

"Würden Sie mir's glauben, wenn ich es sagte?"

"0 ja!"

"Na, ich glaube, er hat recht."

Sie lächelte.

Da dachte Ashurst: 'Ein reizendes Mädel bist du!'.

"Und Joe, sagt er, is ein angelsächsischer Typus. Was soll denn das heißen?"

"Wer ist Joe? Der mit den blauen Augen und roten Wangen?"

"Ja, der Neffe meines Onkels."

"Also nicht Ihr Vetter?"

"Nein."

"Nun, er meinte, Joe sehe aus wie jene Männer, die vor etwa vierzehnhundert Jahren in England einfielen und es eroberten."

"Ach ja, hab schon von ihnen gehört. Aber sieht er wirklich so aus?"

"Solche Sachen sind Gartons Steckenpferd; aber Joe sieht den alten Angelsachsen allerdings etwas ähnlich."

"Jawohl?"

Dieses 'Jawohl' amüsierte Ashurst. Es klang so frisch und anmutig, so entschieden, so höflich zustimmend, und dabei war derlei doch offenbar spanisch für sie.

"Die andern Jungen, sagt er, sind richtige Zigeuner. Das hätt er lieber nicht sagen sollen. Meine Tante hat gelacht, es hat ihr aber doch nicht gepaßt, und meine Vettern hat's verdrossen. Onkel war ein Bauer, und Bauern sind doch keine Zigeuner. Man soll keinen Menschen kränken."

Ashurst hätte ihr gern die Hand gedrückt, doch er gab zur Antwort: "Sie haben ganz recht, Megan. Gestern abend hörte ich übrigens, wie Sie die Kleinen zu Bett brachten."

Sie errötete ein wenig. "Bitte, trinken Sie Ihren Tee, er wird ganz kalt. Soll ich Ihnen frischen bringen?"

"Finden Sie eigentlich je Zeit, etwas für sich selbst zu tun?"

"0 ja!"

"Ich hab eigens aufgepaßt, aber bis jetzt hab ich noch nichts davon bemerkt."

Verlegen runzelte sie die Stirn und errötete noch tiefer.

Als sie fort war, überlegte Ashurst: 'Dachte sie vielleicht, ich mache mich über sie lustig? Nicht um alles in der Welt tät ich das!' Er war in jenem Alter, da der Anblick der Schönheit im Manne nur ritterliche Gefühle wachruft; er hielt sich noch an das Dichterwort: 'Die Sterne, die begehrt man nicht.' Er pflegte nie viel auf seine Umgebung zu achten und bemerkte erst nach geraumer Zeit, daß das von Garton entdeckte Urbild eines Angelsachsen vor der Stalltür stand. Welch ein farbenfroher Anblick, dieser Bursche in seinem beschmutzten braunen Kordanzug, den lehmbespritzten Gamaschen und dem blauen Hemd; Arme und Gesicht waren rotbraun, das blonde Haar schimmerte in der Sonne so hell wie Flachs. Stumpf, ohne Lächeln stand er unbeweglich da. Als er Ashursts beobachtenden Blick gewahrte, schritt er quer über den Hof in der schweren, bedächtigen Gangart, die junge Bauernburschen ihrem Ansehn schuldig zu sein glauben; er verschwand um die Ecke des Hauses, vermutlich in die Küche. Das dämpfte Ashursts gute Laune. Wohl ein Bauerntölpel! Unmöglich, beim besten Willen, sich mit derlei Leuten zu verstehn. Dieses Mädchen dagegen! Sie hatte zerrissene Schuhe, rauhe Hände, und doch - was war es nur? War es wirklich das keltische Blut, wie Garton gesagt hatte? Sie war eine geborene Dame, ein Juwel, wenn sie auch wahrscheinlich nur mit Mühe und Not lesen und schreiben konnte!

Der ältliche, glattrasierte Mann, den er am vergangenen Abend in der Küche gesehn hatte, war in Begleitung seines Hundes in den Hof gekommen und trieb die Kühe zum Melken. Ashurst merkte, daß er lahm war.

"Ein paar Prachtstücke haben Sie da!"

Der Lahme strahlte übers ganze Gesicht. Seine Augen hatten den aufwärtsgerichteten Blick, wie er Menschen eigen ist, die viel gelitten haben.

"Ja-a, schöne Viecher, geben viel Milch."

"Das will ich glauben."

"Will hoffen, Euer Fuß ist schon besser, Herr."

"Danke, leidlich."

Der lahme Mann wies auf sein eigenes Bein. "Ich weiß, was das heißt; zuwidere Geschichte mit so einem Knie. Das meinige macht mir schon an die zehn Jahre zu schaffen."

Ashurst ließ einen Laut des Bedauerns hören, wie er Leuten ohne Geldsorgen so leicht von den Lippen kommt; der Lahme lächelte wieder.

"Na, ich muß noch dem Herrgott danken - um ein Haar hätt man mir's abgenommen."

"Oh!"

"Jawohl, gegen früher fühl ich mich jetzt wie neugeboren."

"Auf mein Bein hab ich einen Umschlag mit einer ausgezeichneten Salbe bekommen."

"Das Mädel brockt Kräuter für Salben. Sie versteht was von Blumen. Es gibt schon Leut, die allerhand Heilmittel kennen. Meiner Mutter hat's weit und breit niemand gleich getan. Hoffentlich seid Ihr bald wieder auf den Beinen, Herr. Hüh! Vorwärts!"

Ashurst lächelte. 'Versteht was von Blumen!' Sie war ja selbst eine!

Nachdem er an jenem Abend sein Essen - kalte Ente, Rahm und Apfelwein - verzehrt hatte, kam das Mädchen herein.

"Bitte, die Tante läßt fragen, ob Sie vielleicht unsern Maifestkuchen kosten wollen?"

"Gern, wenn ich in die Küche kommen darf."

"Kommen Sie nur! Ihnen fehlt wohl Ihr Freund?"

"Keine Spur. Aber wissen Sie bestimmt, daß niemand etwas dagegen hat?"

"Wer denn nur? Wir werden uns alle sehr freuen."

Ashurst erhob sich so plötzlich, daß sein steifes Knie versagte; er strauchelte, sank zurück. Das Mädchen stieß einen leisen Schreckenslaut aus und hielt ihm die Hände hin. Er ergriff die kleinen, rauhen, gebräunten Hände, überwand die Versuchung, sie an die Lippen zu führen, und ließ sich von ihr in die Höhe ziehn. Sie trat dicht an ihn heran und bot ihm ihre Schulter. Und auf sie gestützt, humpelte er durchs Zimmer. Ihm schien, als habe er nie im Leben etwas Angenehmeres berührt. Doch brachte er die Geistesgegenwart auf, seinen Stock aus dem Schirmständer zu nehmen und die Hand zurückzuziehn, ehe sie die Küche betraten.

In jener Nacht schlief er wie ein Murmeltier, und als er erwachte, war die Geschwulst an seinem Knie fast verschwunden. Wieder verbrachte er den Vormittag in seinem Stuhl auf dem kleinen Rasenplatz und kritzelte Verse nieder. Am Nachmittag jedoch streifte er mit den beiden kleinen Jungen Nick und Rick umher. Es war Sonnabend, deshalb kamen sie früher als sonst aus der Schule. Flinke, scheue, braungebrannte Schlingel von sechs und sieben Jahren, die bald gesprächig wurden, denn Ashurst verstand mit Kindern umzugehn. Als es vier Uhr war, hatten sie ihm schon alle ihre Methoden vorgeführt, Lebewesen den Garaus zu machen, bis auf das Forellenfangen; mit aufgekrempelten Hosen lagen sie auf dem Bauch über dem Forellenbach und taten, als verständen sie auch das. Natürlich fingen sie nicht das geringste, denn ihr Kreischen und Kichern verscheuchte diese gefleckten Dinger. Ashurst saß auf einem Felsen am Rand des Buchenhains, sah ihnen zu und lauschte dem Rufen eines Kuckucks, bis Nick, der Altere und weniger Ausdauernde, heraufkam und sich neben ihm aufpflanzte.

"Auf diesem Stein hockt immer das Zigeunergespenst," sagte er.

"Was für ein Zigeunergespenst?"

"Weiß nicht, hab es nie gesehn. Megan sagt, es sitzt immer hier; und der alte Jim hat es einmal gesehn. Das war in der Nacht, bevor unser Fohlen dem Vater den Schädel eingeschlagen hat. Es spielt auf der Fiedel."

"Was für ein Lied spielt es denn?"

"Weiß nicht."

"Wie sieht es aus?"

"Schwarz is es. Der alte Jim sagt, es is ganz zottig. Es is ein richtiges Gespenst und kommt nur bei Nacht." Die schiefliegenden dunklen Augen des Kleinen spähten vorsichtig umher. "Glaubst du, es wird mich einmal holen? Megan hat Angst vor ihm."

"Hat sie es gesehn?"

"Nein. Aber vor dir hat sie keine Angst."

"Das will ich meinen. Warum sollte sie denn Angst haben?"

"Sie betet für dich."

"Woher weißt du das, du kleiner Racker?"

"Ich war schon im Einschlafen, da hab ich sie wispern gehört: 'Gott segne uns alle und auch Mr. Asher.' "

"Du bist ein kleiner Lausbub, daß du weitersagst, was nicht für deine Ohren bestimmt war."

Der Kleine schwieg. Dann sagte er angriffslustig:

"Ich kann den Kaninchen das Fell abziehn. Megan, die verträgt das nicht. Ich seh gern Blut."

"So, so! Du kleines Ungeheuer!"

"Was is das - Ungeheuer?"

"Ein Geschöpf, das andern gern wehtut."

Der kleine Junge sah finster drein. "Sie sind ja schon tot, wenn ich sie abzieh."

"Stimmt, Nick. Da hast du recht."

"Frösche kann ich auch häuten."

Ashurst jedoch saß ganz gedankenverloren. 'Gott segne uns alle und auch Mr. Asher!' Nick wunderte sich, daß sein neuer Freund auf einmal unzugänglich geworden, und lief zum Bach zurück, von dem sofort wieder Kichern und Kreischen heraufscholl.

Als Megan ihm Tee brachte, fragte Ashurst:

"Was ist das für eine Geschichte mit dem Zigeunergespenst, Megan?"

Erschrocken blickte sie empor.

"Es bringt Unglück."

"Sie glauben doch nicht an Gespenster!"

"Hoffentlich krieg ich es nie zu sehn."

"Bestimmt nicht. So etwas gibt es ja gar nicht. Der alte Jim hat damals vermutlich irgendein Pferd gesehn."

"0 nein! Es gibt Gespenster unter den Felsen; das sind die Menschen, die vor langer Zeit hier gelebt haben."

"Jedenfalls sind es keine Zigeuner. Die alten Bewohner dieser Hügel waren schon längst tot, ehe die Zigeuner kamen."

Sie entgegnete nur: "Es sind lauter böse Geister."

"Warum? Wenn es wirklich welche gibt, dann sind es nur Naturwesen wie die wilden Kaninchen. Die Blumen sind deshalb nicht böse, weil sie wild wachsen; auch die Heckenrosen hat niemand gepflanzt, und doch riecht man sie nicht ungern. Ich geh einmal bei Nacht zum Wasser, suche Ihr Gespenst auf und rede mit ihm."

"Ach nein, ach nein! Bitte, nicht!"

"Doch, doch! Ich geh hin und setz mich auf seinen Stein."

Sie schlug die Hände zusammen. "Ach, bitte, nicht!"

"Na, was liegt denn dran, wenn mir was zustößt?"

Sie gab keine Antwort. Ein wenig verstimmt fügte er hinzu:

"Übrigens, ich werd es wahrscheinlich nicht mehr sehn, denn ich muß ja bald fort."

"Bald?"

"Ihre Tante wird mich nicht gerne lang hier behalten."

"0 doch! Wir vermieten immer im Sommer."

Er blickte sie fest an und fragte:

"Möchten Sie, daß ich hier bleibe?"

"Ja.."

"Heut nacht werd ich für Sie beten!"

Sie wurde feuerrot, runzelte die Stirn und verließ das Zimmer. Er blieb zurück, verwünschte sich selbst und vergaß den Tee, bis er zu bitter schmeckte. Ihm war, als sei er mit derben Stiefeln in Glockenblumen getreten. Wie hatte er nur etwas so Dummes sagen können? War er auch solch ein naturfremder, aufgeblasner Bücherwurm wie Robert Garton, ohne jedes tiefere Verständnis für dieses Mädchen?



IV

Während der nächsten Woche unternahm Ashurst einige Streifzüge in die Umgebung, um zu erproben, ob sein Bein wieder in Ordnung sei. Dieser Frühling war ihm eine Offenbarung. In trunkenem Schaun sah er die eben erschloßnen weißrosa Knospen einer spätblühenden Buche sich im Sonnenlicht vom tiefblauen Himmel abheben, sah die Stämme und Äste der wenigen Hochlandsföhren im grellen Sonnenschein rötlich schimmern, sah die Lärchen auf dem Heidemoor draußen sich neigen - wie lebendig schienen sie, wenn der Wind in die zartgrünen Wipfel über den rostbraunen Zweigen fuhr! Bisweilen lag er auf einem Hügelhang und blickte nieder auf die dichten Büschel wilder Veilchen oder empor in das dürre Farnkraut und ließ die Finger über die zartrosa Knospen der Brombeeren gleiten. Der Kuckuck rief, die Grünspechte hämmerten und aus der Höhe erklangen die perlenden Triller einer Lerche. Es war so ganz anders als jeder Frühling, den er zuvor erlebt, denn nun war der Lenz auch in seinem Herzen. Tagsüber sah er die Familie kaum, und wenn Megan ihm seine Mahlzeiten brachte, schien sie stets im Haus oder mit den jungen Tieren im Hof zu sehr beschäftigt, um lange mit ihm plaudern zu können. Abends jedoch saß er behaglich auf der Fensterbank in der Küche, rauchte und unterhielt sich mit dem lahmen Jim oder mit Mrs. Narracombe, während das Mädchen nähte oder die Reste des Abendbrots fortschaffte. Und manchmal gewahrte er, daß Megans Augen, jene taufrischen grauen Augen mit langem, sanftem Blick an ihm hingen; dann fühlte er sich seltsam geschmeichelt und so vergnügt wie eine schnurrende Katze.

Eine Woche später, an einem Sonntagabend, lag er im Obstgarten, lauschte einer Amsel und dichtete ein Liebeslied; da hörte er die Gartentür zufallen, sah das Mädchen zwischen den Bäumen daherlaufen und den rotbäckigen, sonst so schwerfälligen Joe ihr nacheilen. Ungefähr zwanzig Schritt von Ashurst endete die Jagd und die beiden standen einander gegenüber, ohne den Fremden im Gras zu bemerken. Der Bursche ging auf sie los, das Mädchen wehrte ihn ab. Ashurst gewahrte ihre zornige, bestürzte Miene und des Burschen Gesicht - wer hätte je gedacht, daß dieser rotbackige Tölpel so verstört aussehn konnte! Von diesem Anblick peinlich berührt, sprang Ashurst auf, und die beiden bemerkten ihn. Megan ließ die Hände sinken und floh hinter einen Baumstamm; der Bursche stieß einen Zorneslaut aus, rannte zum Abhang, kletterte hinüber und verschwand. Ashurst ging langsam auf sie zu. Gesenkten Blicks stand sie regungslos da und biß sich auf die Lippe - ein anmutiges Kind, wie ihr so das schöne dunkle Haar ums Gesicht flatterte.

"Verzeihung!" sagte er.

Mit weit geöffneten Augen sah sie zu ihm auf, dann atmete sie wieder ruhiger und wandte sich ab. Ashurst folgte ihr.

"Megan!"

Sie aber schritt weiter; da ergriff er ihren Arm und kehrte sie sanft zu sich herum.

"Bleiben Sie! Nur ein Wort!"

"Warum bitten Sie mich um Entschuldigung? Zu mir sollten Sie nicht so reden."

"Na, dann soll Joe verzeihn."

"Wie kann er sich nur unterstehn, mir so nachzurennen?"

"Er ist wohl verliebt in Sie."

Sie stampfte mit dem Fuß auf.

Ashurst stieß ein kurzes Lachen aus. "Soll ich ihm eins aufs Dach geben?"

In plötzlicher Leidenschaft rief sie:

"Sie lachen mich aus - mich und uns alle!"

Er ergriff ihre Hände, doch sie wich so weit zurück, daß ihr erregtes kleines Gesicht mit dem zerzausten dunklen Haar zwischen den rosa Büscheln der Apfelknospen beinah verschwand. Ashurst zog ihre Hand, die er noch immer festhielt, an die Lippen und drückte einen Kuß darauf. Er fühlte, er sei diesem Tölpel Joe weit überlegen und habe sich ritterlich benommen - jene rauhe kleine Hand nur eben mit den Lippen berührt. Da ließ ihr Widerstand nach, sie schien ihm entgegenzuzittern. Eine wohlige Wärme durchrieselte Ashurst vom Scheitel bis zur Sohle. Dieses schlanke junge Mädchen, das so einfach, so anmutig und lieblich war, fand also an der Berührung seiner Lippen Gefallen! Und plötzlich konnte er nicht mehr widerstehn - er umschlang sie, drückte sie an sich und küsste ihre Stirn. Aber dann erschrak er - sie war blaß geworden und hatte die Augen geschlossen, so daß die langen dunklen Wimpern auf ihren bleichen Wangen lagen; auch ihre Arme hingen schlaff herab. Die Berührung ihrer Brust ließ ihn erschauern. "Megan", seufzte er und ließ sie los. Durch die tiefe Stille schmetterte eine Amsel. Da erfaßte das Mädchen seine Hand, drückte sie an die Wange, Herz und Lippen, küßte sie voll Leidenschaft und verschwand zwischen den bemoosten Stämmen der Apfelbäume. Ashurst ließ sich auf einem knorrigen alten Baumstamm nieder, der sich fast am Boden hinstreckte, und starrte bebend und verwirrt auf den blühenden Apfelzweig, der eben noch ihr Haar geschmückt hatte - feine rosa Knospen mit einem einzigen, ganz erschloßnen weißen Blütenstern. Was hatte er getan? Was hatte ihn so überwältigt? Schönheit - Mitleid - oder nur der Frühling? Trotz alledem fühlte er sich seltsam glücklich und sieghaft, und immer wieder durchrieselten ihn Schauer und ungewisses Bangen. Dies war der Anfang von - ja, wovon? Gelsen stachen ihn, tanzende Mücken flogen ihm schier in den Mund und der Frühling um ihn her schien stets lebendiger und lieblicher zu werden; das Rufen des Kuckucks und der Amseln, das Hämmern des Grünspechts, der Abendsonnenschein, die Apfelblüten, die ihr Haupt geschmückt - -! Er erhob sich von dem alten Baumstamm und schlenderte aus dem Obstgarten hinaus; er brauchte Raum und freien Himmel, um über diese neuen Gefühle Klarheit zu gewinnen. Er schlug den Weg nach dem Heidemoor ein; von der Esche in der Hecke flog eine Elster auf und wie ein Bote vor ihm her.

Welcher Mann - gleichviel in welchem Alter vom fünften Jahre an - kann behaupten, er sei nie verliebt gewesen? Ashurst hatte sein Kinderfräulein geliebt, seine Partnerin in der Tanzstunde und während der Ferien so manches Mädchen. Er hatte immer aus gewisser Entfernung für jemanden geschwärmt. Diesmal aber war dieser Jemand ihm ganz nah gekommen. Ein völlig neues Gefühl, erschreckend und entzückend, das erhebende Bewußtsein, er sei nun erst ein ganzer Mann. Solch wilde Blume in Händen halten, sie an die Lippen pressen dürfen, fühlen, wie sie ihm verzückt entgegenbebte! Wie berauschend - und wie verwirrend! Was sollte er nun tun, wie das nächstemal ihr gegenübertreten? Seine erste Liebkosung war kühl und mitleidsvoll gewesen, doch die nächste konnte es nicht mehr sein, nun, da sie seine Hand auf ihr Herz gepreßt und durch den heißen raschen Kuß auf diese Hand ihre Liebe verraten hatte. Manche Naturen verrohen durch Liebe, die ihnen zuteil wird, andere - wie Ashurst - erwärmt und rührt sie, reißt sie in seligem Taumel hin, ist ihnen schier ein Wunder.

Und dort oben zwischen den Felsen quälte ihn bald stürmisches Verlangen, sich dieser Frühlingsfreude aus ganzem Herzen hinzugeben, bald ein vages, doch unleugbares Mißbehagen. Im einen Augenblick gab er sich völlig dem stolzen Gefühl hin, solch anmutiges, vertrauensvolles, taufrisches Geschöpf erobert zu haben, im nächsten dachte er mit erzwungen-feierlichem Ernst: 'Alles recht schön, mein Junge! Aber bedenke, was du tust! Du weißt, wohin es führt!'

Ohne daß er es gewahrte, brach die Dämmerung herein und umhüllte die Felsen, die an assyrische Denkmäler gemahnten. Und die Stimme der Natur sprach zu ihm: 'Eine neue Welt erschließt sich dir!' So ergeht es einem Mann, der um vier Uhr früh aufsteht und in den Sommermorgen hinauswandert: Tiere, Vögel und Bäume sehn ihn so fremd an, als sei alles über Nacht anders, neu geworden.

Stundenlang saß er dort, bis ihn die Kälte vertrieb; dann stieg er zwischen den Steinen und Heidekrautwurzeln bergab bis zur Landstraße, ging den Heckenweg zurück und wieder an der üppigen Wiese vorbei zum Obstgarten. Dort rieb er ein Streichholz an und sah auf die Uhr. Fast zwölf! Schwarze Nacht lag jetzt über dem totenstillen Garten - wie anders schien es jetzt als noch vor sechs Stunden bei Tageslicht und Vogelzwitschern! Und plötzlich sah er sein Idyll mit den Augen der andern - sah im Geist, wie Mrs. Narracombe neugierig den Schlangenhals reckte, mit dem schnellen Blick ihrer dunklen Augen die Situation durchschaute und wie ein Zug von Härte in ihr schlaues Gesicht trat; sah den schwerfälligen Joe wütend dreinschaun, hörte die mißtrauischen, unflätigen Spötteleien der zigeunerbraunen Vettern; einzig der lahme Jim mit dem leidenden Blick schien ihm erträglich. Und erst das Dorfwirtshaus - die klatschenden Weiber, die ihm auf seinen Spaziergängen begegneten, und dann - seine eigenen Freunde, Robert Gartons Lächeln beim Abschied an jenem Morgen vor zehn Tagen - so ironisch und vielsagend! Abscheulich! Einen Augenblick lang haßte er grimmig diese rohe, zynische Welt, der man leider nun einmal angehörte. Die Gartentür, an der er lehnte, be gann grau zu schimmern, ein Leuchten glomm vor ihm auf und durchbrach das bläuliche Dunkel. Der Mond! Dort hinten, jenseits des Abhangs, kam er gerade hervor, rot, beinah voll - ein seltsamer Mond! Er wandte sich ab und ging den Heckenweg hinan, wo die würzige Nachtluft nach Kuhmist und jungem Laube roch. In den strohgedeckten Verschlägen sah er die dunklen Schatten der Kühe und ihre bleichen, aufwärtsgebogenen Hörner, die schmalen Mondsicheln glichen. Vorsichtig öffnete er das Hoftor. Hinter den Fenstern des Hauses war alles dunkel. Mit leisen Schritten trat er zum Torbogen, barg sich hinter einem der Eibenbäume und spähte zu Megans Fenster empor. Es stand offen. Schlief sie oder lag sie vielleicht wach, bekümmert, unglücklich, weil er nicht heimkam? Während er so zum Fenster hinaufblickte, schrie eine Eule, und der Ruf schien weithin die Nacht zu erfüllen, so still lag alles, bis auf das eintönige Murmeln des Baches, der am Obstgarten unten vorbeifloß. Bei Tag der Kuckucksruf und jetzt der Eulenschrei - wie herrlich stimmten sie zu diesem Aufruhr, dieser trunknen Freude seines Gemüts! Da erblickte er das Mädchen am Fenster. Er trat ein wenig hinter dem Eibenstamm hervor und flüsterte: "Megan!" Sie fuhr zurück, verschwand, kam wieder und beugte sich weit hinab. Er schlich auf dem Rasen vorwärts und stieß mit dem Schienbein an den grünen Stuhl - bei dem unerwarteten Geräusch hielt er den Atem an. Ihr ausgestreckter Arm und das regungslose Gesicht schimmerten verschwommen im Dunkel. Er rückte den Stuhl heran und stieg geräuschlos hinauf. Wenn er sich emporreckte, konnte er zu ihr hinauf reichen. Ihre Hand hielt ihm den riesigen Torschlüssel hin, und er drückte diese brennend heiße Hand, die ihm den kalten Schlüssel reichte. Er nahm eben noch ihr Gesicht wahr, das wirre Haar, die schimmernden Zähne zwischen den Lippen. Sie war noch in den Kleidern, das arme Kind war gewiß seinetwegen aufgeblieben! "Du schöne Megan!" Ihre heißen, rauhen Finger umklammerten die seinen; ihr Antlitz hatte einen seltsamen, verlornen Ausdruck. Hätte er es nur erreichen können - wenn auch nur mit der Hand! Die Eule schrie, Heckenrosenduft drang herauf. Plötzlich schlug einer der Hofhunde an; ihre Finger lösten sich, sie schrak zurück.

"Gute Nacht, Megan!"

"Gute Nacht, Herr!" Sie war verschwunden. Seufzend stieg er vom Stuhl, setzte sich und zog die Schuhe aus. Nun blieb wohl nichts andres übrig, als sich leise hineinzustehlen und zu Bett zu gehn. Doch er saß noch lange unbeweglich, während seine Füße im taufeuchten Gras kalt wurden; noch immer berauschte ihn die Erinnerung an ihren verlornen, leise lächelnden Ausdruck, an den heißen Druck ihrer Finger, die ihm den kalten Schlüssel in die Hand preßten.



V

Beim Erwachen hatte er das Gefühl, als liege ihm das Abendbrot schwer im Magen, und dabei hatte er es gar nicht gegessen. Das romantische Erlebnis im Garten schien unwirklich und fern. Doch der Morgen war herrlich! Endlich stand der Frühling in voller Blüte - in dieser einzigen Nacht schienen die goldnen Becher der Butterblumen die ganze Wiese erobert zu haben, und von seinem Fenster aus sah er die Apfelblüten den Obstgarten wie eine rosigweiße Daunendecke einhüllen. Er ging hinunter und bangte fast davor, Megan zu begegnen. Dennoch war er ärgerlich und enttäuscht, als statt ihrer Mrs. Narracombe ihm das Frühstück brachte. Rascher noch als sonst schweiften heute ihre Blicke umher, ihr Schlangenhals schien sich noch rascher zu bewegen. Hatte sie etwas bemerkt?

"Also gestern nacht sind Sie und der Mond spazieren gegangen, Mr. Ashurst! Haben Sie irgendwo gegessen?"

Ashurst schüttelte den Kopf.

"Wir haben das Nachtmahl für Sie aufgehoben, aber mir scheint, Sie denken an zu viel andre Dinge, um auf so was zu achten."

Machte sie sich vielleicht über ihn lustig? Ihre Stimme klang so eigentümlich. Wenn Sie wüßte! Und in diesem Augenblick dachte er: 'Nein, nein; ich mach mich aus dem Staub. Ich mag nicht in ein so verdammt schlechtes Licht geraten.'

Doch nach dem Frühstück überkam ihn wieder das Verlangen, Megan zu sehn, und wuchs mit jeder Minute, zugleich aber auch die Angst, man könne ihr etwas gesagt haben, was alles verdorben hätte. Ein böses Zeichen, daß sie nicht gekommen war, sich nicht einmal hatte blicken lassen! Und das Liebeslied, an dem er gestern nachmittag unter dem Apfelbaum mit so viel Eifer gearbeitet und das er für so wichtig gehalten, erschien ihm jetzt derart unbedeutend, daß er es zerriß und als Fidibus gebrauchte. Was hatte er von Liebe gewußt, ehe sie seine Hand ergriffen und geküßt hatte! Und nun - was war ihm noch verborgen! Aber er fand es geschmacklos, das Thema dichterisch zu verarbeiten. Er ging in seine Schlafkammer hinauf, um ein Buch zu holen, da begann sein Herz heftig zu pochen: Megan stand im Zimmer und machte sein Bett. Er blieb in der Tür stehn und sah ihr zu; plötzlich gewahrte er in ungestümer Freude, wie sie sich niederbeugte und den Polster an der Stelle küßte, wo sein Kopf geruht hatte. Durfte er ihr verraten, daß er diesen rührenden Beweis ihrer Ergebenheit mitangesehn? Hörte sie ihn aber davonschleichen, dann war es wohl noch schlimmer! Sie nahm das Kissen und hielt es einen Augenblick hoch; sie schien sich nicht entschließen zu können, den Eindruck seiner Wange zu zerstören, ließ es sinken und wandte sich um.

"Megan!"

Erschreckt hob sie die Hände zum Gesicht empor, doch ihr Blick drang ihm durch und durch. Nie zuvor hatte ihn die Tiefe, Reinheit und rührende Treuherzigkeit dieser taufrischen Augen so ergriffen. Mühsam stammelte er:

"Reizend von Ihnen, daß Sie gestern abend meinetwegen wachblieben."

Sie schwieg noch immer, und er stammelte weiter:

"Ich bin auf dem Heidemoor umhergewandert; es war eine herrliche Nacht. Ich - ich wollt mir jetzt nur ein Buch holen.

Dann fiel ihm plötzlich wieder ein, wie sie sein Kissen liebkost hatte, und kühn ging er auf sie zu. Während er einen leichten Kuß auf ihre Augen drückte, dachte er seltsam erregt: 'Nun ist's geschehn! Gestern war alles noch ganz zufällig, aber jetzt, jetzt hab ich's gewollt!' Das Mädchen ließ die Stirn an seinen Lippen ruhn, die nun die ihren suchten und fanden. Dieser erste wirkliche Liebeskuß, so eigen und wundersam, fast noch unschuldig - welchem von beiden machte er das Herz wilder schlagen?

"Komm heut nacht, wenn alles schläft, zu dem großen Apfelbaum, Megan - versprich mir's!"

"Ich versprech es", gab sie flüsternd zurück.

Dann ließ Ashurst sie los, erschrocken über ihr bleiches Antlitz, erschrocken über alles, was er getan, und ging wieder hinunter. Ja, nun war's geschehn! Er hatte ihre Liebe entgegengenommen und ihr die seine erklärt! Dann ging er zu dem grünen Stuhl, immer noch ohne Buch. Dort saß er nun und starrte vor sich hin ins Leere, voll Siegerglück und auch voll Reue, während um ihn her auf dem Bauernhof das Leben wie sonst weiterlief. Er wußte nicht, wie lange er so traumverloren gesessen, als er plötzlich Joe rechts hinter sich stehn sah. Der Bursche war offenbar von schwerer Feldarbeit heimgekommen und stand nun verlegen da, trat von einem Fuß auf den andern und atmete hörbar; sein Gesicht flammte purpurn wie das Abendrot, die Arme unter den aufgekrempelten blauen Hemdärmeln hatten Flaum und Farbe reifer Pfirsiche. Die roten Lippen standen offen; die blauen Augen unter den flachsblonden Wimpern starrten unverwandt auf Ashurst, bis dieser ironisch fragte:

"Nun, Joe, kann ich etwas für Sie tun?"

"Jawohl."

"Was denn?"

"Abziehn! Wir haben genug von Ihnen!"

Ashursts Miene, die nie allzu bescheiden war, wurde hoheitsvoll über die Maßen.

"Überaus nett von Ihnen, aber ich ziehe vor, zunächst die Meinung der andern zu hören."

Der Bursche trat ein oder zwei Schritt näher; der Schweißgeruch seiner ehrlichen Arbeit irritierte Ashursts Nase.

"Warum bleiben Sie noch hier?"

"Weil es mir gefällt."

"Es gefällt Ihnen bestimmt nicht mehr, wenn ich Ihnen den Schädel einhau!"

"Was Sie nicht sagen! Wann belieben Sie, das zu versuchen?"

Joes ganze Antwort war ein lautes Schnauben, doch seine Augen blickten wie die eines gereizten Jungstiers. Dann schien sein Gesicht wie von einem Krampf verzerrt.

"Megan mag Sie nicht!"

Da verließ Ashurst seine Selbstbeherrschung, ihn übermannte Zorn, Eifersucht, Verachtung. Dieser plumpe, schnaubende Bauernlümmel! Er sprang auf und stieß den Stuhl zurück.

"Gehen Sie zum Teufel!"

Noch während er diese Worte sprach, sah er Megan in der Tür stehn, ein kleines braunes Wachtelhündchen auf den Armen. Rasch trat sie auf ihn zu.

"Es hat blaue Augen!" sagte sie.

Joe wandte sich ab, sein Nacken war puterrot.

Ashurst fuhr mit dem Finger über die Schnauze des braunen Geschöpfs auf ihrem Arm - wie ein Ochsenfrosch glotzte es drein! Wie wohlig es sich an sie schmiegte!

"Das Tierchen hat dich schon lieb. Ja, Megan, dich hat alles lieb!"

"Bitte, was hat Ihnen Joe gesagt?"

"Abziehn soll ich, weil du mich weghaben willst."

Sie stampfte mit dem Fuß. Dann sah sie zu Ashurst empor. Bei diesem anbetenden Blick erschauerte er; sie kam ihm wie ein Falter vor, der sich die Flügel versengt.

"Heut nacht!" sagte er. "Nicht vergessen!"

"Nein." Sie schmiegte die Wange an das braune Fell des fetten Hündchens und schlüpfte ins Haus zurück.

Ashurst schlenderte den Heckenweg hinab.

An der Zauntür der Wiese begegnete er dem Lahmen mit seinen Kühen.

"Schöner Tag heute, Jim!"

"Ja, das richtige Wetter fürs Gras. Die Eschen sind heuer später dran als die Eichen. Wenn die Eiche vor der Esche ausschlägt -"

Ashurst fragte lässig: "Wo standen Sie damals, Jim, als Sie das Zigeunergespenst sahn?"

"Es wird wohl unter dem großen Apfelbaum gewesen sein, glaub ich."

"Und Sie glauben wirklich, daß es dort war?"

Der Lahme erwiderte vorsichtig:

"Schwören möcht ich nicht darauf, daß es dort war. Mir is es aber so vorgekommen."

"Was für ein Gespenst soll das sein?"

Der Lahme dämpfte die Stimme:

"Der alte Bauer, Mr. Narracombe, heißt es, stammt von Zigeunern ab. Aber das is nur Gerede. Die Zigeuner, müßt Ihr wissen, die verstehn's großartig, die Ihrigen festzuhalten. Kann sein, sie haben gewußt, daß es bald mit ihm aus sein wird, und haben ihm diesen Kerl geschickt, damit er Gesellschaft hat. So hab ich mir das zusammengereimt."

"Wie hat er ausgesehn?"

"Voll Haarzotteln im Gesicht, und hat immer so getan, wie wenn er eine Fiedel im Arm hätt. Die Leut sagen, es gäb keine Gespenster. Ich aber hab gesehn, wie sich dem Hund das Fell gesträubt hat, mitten in der Nacht, wo ich selber nichts von dem Gespenst gemerkt hab."

"War es mondhell?"

"Ja, bald Vollmond, aber er war grad erst in die Höh gekommen, gelb wie Gold, dort hinter den Bäumen."

"Und Sie glauben, so ein Geist bringt Unheil?"

Der Lahme schob den Hut aus der Stirn; er schlug die Augen zu Ashurst auf, sein Blick schien ernster denn je.

"Was kann unsereins viel sagen - aber sie finden halt keine Ruh. Es gibt allerhand auf der Welt, was der Mensch nicht versteht, das is einmal gewiß. Und der eine kann solche Dinge sehn, der andre sieht nichts. Nehmt einmal unsern Joe - legt ihm, was Ihr wollt, vor die Nase hin, er sieht's doch nicht; und die andern Burschen sind genau solche Lümmel. Aber wenn unsre Megan wo hinkommt, wo's nicht geheuer is - die sieht alles, was dort umgeht, und noch mehr, da wett ich meinen Kopf."

"Sie ist eben sensitiv."

"Was heißt das?"

"Ich meine, sie hat ein so feines Empfinden."

"Versteh schon! Ein Herz voller Lieb!"

Ashurst fühlte, wie ihm das Blut in die Wangen stieg, und hielt dem Mann seinen Tabaksbeutel hin.

"Versuchen Sie einmal, Jim."

"Schönen Dank, Herr. So ein Mädel gibt's weit und breit nicht."

"Wird wohl stimmen," erwiderte Ashurst kurz, zog den Beutel zu und ging weiter.

'Ein Herz voller Lieb!' Ach ja! Und was wollte er tun? Was hatte er für Absichten - wie man so sagt - mit diesem liebevollen Mädchen? Dieser Gedanke verfolgte ihn auf seinem Wege durch die Wiesen voll goldner Butterblumen, wo kleine rotbraune Kälber grasten und hoch oben Schwalben dahinflogen. Ja, die Eichen waren den Eschen voraus, sie waren schon ganz goldbraun; kein Baum hatte den gleichen Farbton oder gleichentwickelte Triebe wie der andre. Der Kuckuck rief und tausend Vögel sangen, die Bächlein glitzerten im Sonnenlicht. Die Alten glaubten an eine ewige Jugend unter den Goldapfelbäumen der Hesperiden!... Eine Wespenkönigin ließ sich auf seinem Ärmel nieder. Sie erschlagen hieß zweitausend Wespen vernichten und die Früchte, die aus den Apfelblüten des Gartens reiften, vor Schaden hüten; doch welcher Liebende konnte töten an einem Tag wie diesem? Er betrat eine Wiese, auf der ein junger rotbrauner Stier graste. Ashurst fand, daß er Joe ähnlich sei. Der junge Stier kümmerte sich ganz und gar nicht um den Besucher; vielleicht war auch er ein wenig berauscht von dem Summen und Leuchten der goldschimmernden Weide unter seinen kurzen Beinen. Unbelästigt kam Ashurst hinüber zu dem Höhenzug jenseits des Baches. Dieser Abhang stieg zu einem felsgekrönten Hügel an. Glockenblumen deckten dort wie ein zarter Schleier den Boden und ein Wäldchen von Holzapfelbäumen stand in voller Blüte. Er warf sich ins Gras. Wie so ganz anders war es hier als dort bei den leuchtenden Butterblumen auf den goldglänzenden Wiesen - die hauchzarte Schönheit dieser Blüten am Fuß des grauen Felsens ergriff ihn wie ein Wunder. Alles verändert bis auf den Kuckucksruf und das Rauschen des Wassers. Lange lag er so im Gras und sah in die sinkende Sonne, bis die Holzapfelbäume ihre Schatten über die Glockenblumen warfen; nur ein paar wilde Bienen waren seine Gefährten. Wie ein Fieber überkam ihn die Erinnerung an den Kuß am Morgen und der Gedanke an die Nacht unter dem Apfelbaum. An einem Ort wie diesem lebten sicher Faune und Dryaden; Nymphen, so weiß wie die Holzapfelblüten, bargen sich in jenen Bäumen und spitzohrige Faune, so braun wie welke Farne, lauerten ihnen auf. Der Kuckuck rief noch immer, als er wieder zu sich kam, noch immer rauschte das Wasser; aber die Sonne war schon hinter dem Felsen verschwunden, auf dem Abhang war es kühl geworden, einige Kaninchen krochen hervor. 'Heute nacht!' dachte er. So wie aus der Erde alles empordrängt und sich unter den behutsamen Fingern einer unsichtbaren Hand allmählich entfaltet, so taten auch ihm sich Herz und Sinne auf. Er erhob sich und brach einen Zweig von einem Holzapfelbaum. Die Knospen glichen Megan - noch geschlossen, rosig, wild und frisch; und weiß und wild und rührend wie sie waren auch die sich öffnenden Blüten. Er steckte sich den Zweig an den Rock. Und der ganze Frühlingsdrang in ihm machte sich Luft in einem Seufzer sieghafter Freude. Da huschten die Kaninchen erschreckt davon.



VI

Es war fast elf Uhr, als Ashurst an jenem Abend die Taschenausgabe der Odyssee zur Seite legte, die er eine halbe Stunde ohne zu lesen in der Hand gehalten hatte; dann schlüpfte er durch den Hof in den Obstgarten hinaus. Der Mond war gerade ganz golden über dem Hügel aufgegangen und lugte mit seinem Licht wie ein gewaltiger Wächter durch die Gitterstäbe der noch halbkahlen Eschenzweige. Zwischen den Apfelbäumen war es noch dunkel; um sich zurechtzufinden, blieb Ashurst stehn und betastete das harte Gras mit den Füßen. Dicht hinter ihm regte sich etwas Massiges, Schwarzes und grunzte: drei große Schweine warfen sich wieder dicht aneinandergedrängt an der Mauer zu Boden. Er lauschte. Ganz windstill war's, doch das glucksende, flüsternde Murmeln des Bachs scholl doppelt so laut wie am Tage. Irgendein Vogel schrie sein eintöniges "Pip-pip, Pip-pip". Aus weiter Ferne drang ein Eulenschrei her und der Ruf einer Nachtschwalbe. Ashurst tat einen oder zwei Schritte und blieb wieder stehn; zu seinen Häupten gewahrte er einen weißen, zittrigen Schimmer. Unzählige Blüten und Knospen waren an den schwarzen, reglosen Bäumen im verschwommenen, rieselnden Mondlicht zu zauberhaftem Leben erwacht. Ihn überkam das seltsame Gefühl, als sei er gar nicht allein, als schwebten zahllose weiße Falter und Elfen mit flatternden Schwingen zwischen dem dunklen Himmel und der noch dunkleren Erde. In der verwirrenden laut- und duftlosen Schönheit dieses Augenblicks vergaß er fast, wozu er in den Obstgarten gekommen war. Der flüchtige Glanz, der tagsüber die Erde umflossen, war auch jetzt, des Nachts, nicht geschwunden, er hatte sich nur gewandelt. Langsam drang Ashurst durch das Dickicht von Ästen und Zweigen, die alle in silbrigem Lichtstaub flimmerten, bis er zu dem großen Apfelbaum kam. Der war kaum zu verfehlen, auch nicht in dunkler Nacht, war er doch fast doppelt so hoch und dick wie die andern und den offenen Wiesen und dem Bach zugekehrt. Unter den starken Ästen blieb Ashurst wieder stehn, um zu lauschen. Genau die gleichen Geräusche und leises Grunzen der schläfrigen Schweine. Er legte die Hände an den trockenen, fast warmen Stamm, dessen rauhe bemooste Rinde ein wenig nach Torf roch. Ob sie wohl kam - wirklich kam? Und inmitten dieser im Zauber des Mondlichts bebenden, geisterhaften Bäume begann er an allem zu zweifeln! Alles schien hier so unirdisch, viel zu schön für irdische Liebende; hier mochten nur Gott und Göttin einander begegnen, Faun und Nymphe - nicht er und dieses kleine Bauernmädel. Wäre es ihm nicht fast eine Erleichterung, wenn sie nicht käme? Doch die ganze Zeit über lauschte er unentwegt. Und noch immer rief jener Vogel "Pip-pip, Pip-pip" und noch immer plätscherte und plauderte der kleine Forellenbach, und der Mond warf durch das Gezweig heimliche Blicke darauf wie durch ein Gefängnisgitter. Die Blüten vor seinen Augen schienen stets lebendiger zu werden, schienen mit ihrer geheimnisvollen weißen Schönheit seine bange Erwartung noch zu steigern. Er brach ein Zweiglein ab und hielt es dicht vor die Augen - drei Blüten. Entweihung, Blüten eines Obstbaums zu pflücken - zarte, heilige, junge Blüten - und sie wegzuwerfen! Plötzlich hörte er die Zauntür schließen, die Schweine grunzen und sich wieder bewegen; an den Baumstamm gelehnt, preßte er beide Hände auf die moosige Rinde und hielt den Atem an. Unhörbar wie ein Geist schlüpfte sie zwischen den Bäumen hindurch. Und dann stand sie dicht vor ihm - ihre dunkle Gestalt schien eins mit dem Stamm eines kleinen Baumes, ihr weißes Antlitz eins mit seinen Blüten, so still war es ihm zugewandt. "Megan!" flüsterte er und streckte die Hände nach ihr aus. Sie lief auf ihn zu und warf sich an seine Brust. Als Ashurst ihr Herz an seinem schlagen fühlte, stritten Ritterlichkeit und Leidenschaft in ihm. Sie gehörte nicht zu seiner Welt, sie war so einfach, jung und unbesonnen, so schutzlos und voll Anbetung - mußte er da nicht ihr Beschützer sein in dieser dunklen Nacht? Aber weil sie so einfach war, so ganz hingebende Natur und Schönheit, so sehr zu dieser Frühlingsnacht gehörte wie rings die frischen Apfelblüten, wie konnte er da anders, als alles nehmen, was sie ihm bot, als den Frühling in beider Herzen erfüllen! In diesem Widerstreit der Gefühle zog er sie dicht an sich und küßte sie aufs Haar. Wie lange sie so schweigend dagestanden - er wußte es nicht. Unaufhörlich plätscherte der Bach, die Eulen schrien, langsam klomm der Mond höher und strahlte in weißerem Licht. Die Blüten um sie herum und über ihnen leuchteten auf in lebendiger Schönheit. Ihre Lippen hatten einander gefunden, sie sprachen keine Silbe. Ein einziges Wort nur - und der ganze Zauber wäre versunken. Der Frühling kennt keine Sprache, nur Rauschen und Flüstern. Weit mehr als Worte künden seine kaum erschloßnen Blätter und Blüten, das Murmeln seiner Bäche und dies süße, rastlose Verlangen! Begehren! Und manchmal erwacht der Frühling zum Leben, erfüllt den Augenblick mit seinem Geheimnis, umschlingt Liebende mit den Armen und verzaubert sie durch eine Berührung seiner Finger, so daß sie, Mund an Mund, über diesen Kuß alles vergessen. Während ihr Herz an seinem schlug und ihre Lippen auf den seinen bebten, fühlte Ashurst nur Entzücken - das Schicksal hatte sie für ihn bestimmt, alles mußte sich der Macht der Liebe beugen! Doch als sie die Lippen voneinander lösten und Atem holten, waren sie auch nicht mehr eins. Aber das Verlangen wurde jetzt nur um so stärker, und er seufzte:

"O Megan! Warum bist du gekommen?"

Sie blickte auf, verletzt, erstaunt.

"Sie haben es doch verlangt, Herr."

"Sag nicht 'Herr' zu mir, mein Liebstes."

"Was soll ich denn sagen?"

"Frank."

"O nein, das kann ich nicht."

"Aber du hast mich doch lieb?"

"Ich muß Sie liebhaben! Ich möcht bei Ihnen sein - mehr will ich nicht."

"Mehr nicht!"

Sie flüsterte so leise, daß er sie kaum verstand:

"Ich sterbe, wenn ich nicht bei Ihnen sein kann."

Ashurst holte tief Atem.

"Dann komm mit mir!"

"Oh!"

Berauscht von dem bebenden Entzücken in diesem Ausruf, fuhr er flüsternd fort:

"Wir gehn nach London. Ich zeige dir die Welt. Immer, immer werd ich dich behüten, das versprech ich dir, Megan! Nie werd ich schlecht zu dir sein!"

"Wenn ich nur bei Ihnen sein kann - mehr will ich nicht."

Er strich ihr übers Haar und fuhr flüsternd fort:

"Morgen fahr ich nach Torquay Geld beheben und dir ein einfaches Kleid kaufen, dann gehn wir auf und davon. Und wenn wir nach London kommen und du mich wirklich liebst, heiraten wir vielleicht schon bald."

Sie schüttelte den Kopf, er fühlte ihr Haar zittern.

"O nein, das könnt ich nicht. Ich will nur bei Ihnen sein."

Trunken von seiner eigenen Ritterlichkeit, flüsterte Ashurst weiter:

"Ich, ich bin ja nicht gut genug für dich. Ach, Megan, wann hast du mich zu lieben begonnen?"

"Auf der Landstraße, als wir uns trafen und Sie mich ansahn. Gleich am ersten Abend hab ich Sie lieb gehabt; aber ich hätt nie geglaubt, daß Sie mich leiden mögen."

Mit einemmal glitt sie auf die Knie nieder und versuchte, ihm die Füße zu küssen.

Ein Schauer des Entsetzens durchfuhr Ashurst; er hob sie empor und hielt sie fest, vor Bestürzung fand er keine Worte.

Sie flüsterte: "Warum erlauben Sie mir's nicht?"

"Ich will deine Füße küssen."

Ihr Lächeln trieb ihm die Tränen in die Augen. Ihr weißes, mondbestrahltes Antlitz, so nah dem seinen, das matte Rot ihrer geöffneten Lippen hatten die überirdische Schönheit der Apfelblüte.

Plötzlich riß sie weit die Augen auf und starrte entsetzt an ihm vorbei. Dann löste sie sich aus seinen Armen. "Dort! Dort!" flüsterte sie.

Ashurst gewahrte nichts als den glitzernden Bach, den blaßgoldnen Ginster, die glänzenden Buchen und dahinter den im Mondlicht schimmernden Hügel. Starr vor Schrecken wisperte sie hinter ihm: "Das Zigeunergespenst!"

"Wo denn?"

"Dort - bei dem Stein - zwischen den Bäumen!"

Außer sich sprang er über den Bach und eilte mit großen Schritten auf die Buchengruppe zu. Ein trügerisches Spiel des Mondlichts! Weiter nichts! Zwischen den Felsblöcken und Dornbüschen stolperte er hin und her, murrend und fluchend, und doch mit leisem Grauen. Lächerlich! Albern! Dann kehrte er zu dem Apfelbaum zurück. Sie aber war schon fort; er vernahm ein Rascheln, das Grunzen der Schweine, das Schließen der Zauntür. Statt Megan blieb ihm nur dieser alte Apfelbaum! Er schlang die Arme um den Stamm statt um ihren weichen Leib, fühlte an seinem Gesicht das rauhe Moos statt ihrer weichen Wange! Nur ein wenig von ihrem Duft war auch hier zu spüren. Und die Blüten über ihm und um ihn leuchteten im Mondlicht lebendiger denn je und schienen zu glühen und zu atmen.



VII

Als Ashurst in Torquay aus dem Zug stieg, ging er unschlüssig den Strand entlang, weil er diese 'Perle der englischen Seebäder' nicht kannte. Da er zumeist auf seine Kleidung wenig Wert legte, merkte er nicht, daß er den Einwohnern auffiel und sie ihm erstaunt nachsahn - unbekümmert schritt er in seinem Touristenanzug, staubigen Stiefeln und mit zerbeultem Hut daher. Er suchte und fand eine Filiale seiner Londoner Bank; dort erhielt seine gehobene Stimmung den ersten Dämpfer. Ob er jemanden in Torquay kenne? Nein. Dann müsse er seiner Bank in London drahten, und nach Empfang der Antwort ständen sie gerne zu seinen Diensten. So mißtrauisch war man im wirklichen Leben! Das trübte ein wenig den Glanz seiner Träume; doch er sandte das Telegramm ab.

Fast schräg gegenüber dem Postamt sah er ein Modewarengeschäft für Damen und studierte mit gemischten Gefühlen das Schaufenster. Die Aufgabe, Kleider für seine Liebste - ein Bauernmädel - auszuwählen, machte ihm nicht wenig Kopfzerbrechen. Er trat ein. Eine junge Verkäuferin kam ihm entgegen; sie hatte blaue Augen und blickte ihn mit leicht gerunzelter Stirn erstaunt an. Ashurst erwiderte schweigend den Blick.

"Sie wünschen, mein Herr?"

"Ein Kleid für eine junge Dame."

Die Verkäuferin lächelte. Nun runzelte Ashurst die Stirn - plötzlich wurde ihm klar, wie ungewöhnlich ein solcher Kauf für ihn sei.

Die junge Verkäuferin fragte hastig:

"Wie soll es sein - letzte Mode?"

"Nein, ganz einfach."

"Was für eine Figur hat die junge Dame?"

"Ich weiß nicht; ungefähr einen halben Kopf kleiner als Sie."

"Könnten Sie mir ihre Taillenweite angeben?"

Megans Taille!

"Oh, ganz normal."

"Danke."

Während die Verkäuferin Kleider herbeiholte, musterte er verdrossen die Modelle im Schaufenster und auf einmal schien es ihm ganz unmöglich, daß Megan, seine Megan, je eine andere Kleidung tragen könnte als den groben Wollrock, die ordinäre Bluse und die flache Mütze, die er an ihr gewohnt war. Die junge Verkäuferin war mit verschiedenen Gewändern über dem Arm zurückgekommen und Ashurst sah ihr zu, wie sie die Kleider zur Probe an ihre eigene elegante Gestalt hielt. Da war eines, dessen Farbe ihm gefiel, ein taubengraues, aber sich Megan darin vorzustellen - unmöglich! Die Verkäuferin brachte noch andere Kleider herbei. Ashurst aber stand wie gelähmt. Was sollte er wählen? Sie würde auch einen Hut brauchen, Schuhe und Handschuhe; und wenn er dies alles gekauft hatte, sah sie dann am Ende ganz entstellt aus, wie das Landvolk in Sonntagskleidern überhaupt. Warum sollte sie nicht in ihrer gewöhnlichen Tracht reisen? Nein, das wäre zu auffallend, es handelte sich ja um eine Entführung. Und während er die junge Verkäuferin anstarrte, fuhr es ihm durch den Sinn: 'Ob sie wohl Argwohn schöpft und mich für einen Schurken hält?'

"Könnten Sie vielleicht das graue da für mich beiseitelegen?" fragte er schließlich ratlos. "Ich kann mich jetzt nicht entschließen, ich komm heute nachmittag wieder."

Die junge Verkäuferin stieß einen Seufzer aus.

"Ganz nach Belieben. Ein sehr geschmackvolles Kostüm. Ich glaube nicht, daß Sie etwas Passenderes finden werden."

"Kaum", murmelte Ashurst und verließ den Laden.

Er atmete tief auf, als er, der mißtrauischen Wirklichkeit entronnen, in seine Traumwelt zurückkehrte. Wieder sah er das vertrauensvolle, anmutige Geschöpf vor sich, das mit ihm vereint durchs Leben gehen wollte, sah, wie sie beide sich bei Nacht fortstahlen und im Mondlicht über das Heidemoor wanderten; er hielt den Arm um sie geschlungen und trug ihr die Kleider, bis Megan in einem fernen Wald beim Morgengrauen ihre alten Sachen abstreifte und in die neuen schlüpfte. Von einer weitab liegenden Station würde ein früher Zug sie beide zur Hochzeitsreise entführen, nach London, wo sie in der Großstadt untertauchten und Erfüllung ihrer Liebesträume fänden.

"Frank Ashurst! Hab dich seit dem Rugby-Match nicht gesehn, alter Knabe!"

Ashursts Miene erhellte sich. Er sah ein blauäugiges Gesicht nah dem seinen, sonnig und sonnverbrannt, eines jener Gesichter, die von innen und außen erstrahlen. Er erwiderte:

"Alle Wetter - Phil Halliday!"

"Was treibst denn du hier?"

"Nichts Besondres. Seh mich bloß ein wenig um und will Geld beheben. Ich wohne auf dem Moor."

"Wirst du hier lunchen? Komm, iß mit uns. Ich wohne mit meinen jüngern Schwestern hier. Sie hatten Masern gehabt."

Halliday hängte sich freundschaftlich in ihn ein und Ashurst ging mit, hügelauf, hügelab, hinaus aus der Stadt. Dabei erklärte Halliday mit froher Stimme und sonniger Miene, in diesem öden Nest gebe es keinen andern Zeitvertreib als Baden und Rudern. Während seines Geplauders erreichten sie eine sichelförmig gebaute Häusergruppe, die etwas erhöht und abseits vom Meer lag; sie betraten ein Hotel im Mittelpunkt dieses Häuserblocks.

"Komm auf mein Zimmer, dich waschen. Das Essen wird gleich fertig sein."

Ashurst betrachtete sich im Spiegel. Nach seinem Schlafzimmer auf dem Bauernhof, wo er sich in den letzten vierzehn Tagen mit einem Kamm und zwei Hemden beholfen hatte, schien ihm dieses Zimmer mit den vielen Kleidern und Bürsten geradezu luxuriös. Er dachte: 'Sonderbar - man sollte gar nicht glauben - -' Aber was, das wußte er selbst nicht recht.

Als er Halliday zum Lunch ins Wohnzimmer folgte, wandten sich ihm bei den Worten: "Frank Ashurst - meine jungen Schwestern" drei blondhaarige, blauäugige Köpfe zu.

Zwei von ihnen waren noch ganz jung, etwa zehn und elf, die dritte war ungefähr siebzehn, groß und ebenfalls blond, mit rosigen, leicht sonngebräunten Wangen; die Augenbrauen waren etwas dunkler als das Haar und liefen von der Nase etwas schräg aufwärts. Ihre Stimmen klangen ähnlich der ihres Bruders, hell und heiter; die drei standen aufrecht da, schüttelten Ashurst rasch die Hand, sahen ihn prüfend an und dann gleich wieder weg und begannen das Nachmittagsprogramm zu besprechen. Eine richtige Diana mit ihren dienenden Nymphen! Nach dem Leben auf dem Bauernhof kam ihm dieses flotte, zwanglose, lebhafte Gespräch, diese kühle Sauberkeit und selbstverständliche Kultur zuerst sonderbar, dann aber so natürlich vor, daß ihm die Tage auf dem Heidemoor plötzlich weit entrückt schienen. Die beiden Kleinen hießen Sabina und Freda, die Älteste Stella.

Da wandte sich Sabina mit der Frage an ihn:

"Wie wär's? Möchten Sie nicht mit uns Garnelen fangen gehn? Es ist schrecklich lustig!"

Von dieser unerwarteten Zutraulichkeit überrascht, murmelte Ashurst:

"Leider muß ich heute nachmittag zurückfahren."

"Oh!"

"Können Sie es nicht verschieben?"

Stella hatte ihn dies gefragt. Ashurst wandte sich ihr zu und schüttelte lächelnd den Kopf. Sie war wirklich reizend. Bedauernd sagte Sabina: "Es wird schon gehn!" Dann kam das Gespräch aufs Schwimmen und auf Höhlen.

"Wie weit können Sie hinausschwimmen?"

"Ungefähr drei Kilometer."

"Oh!"

"Wirklich!"

"Ausgezeichnet!"

Drei Paar blaue Augen sahen ihn bewundernd an, so daß sich Ashurst neuerlich als wichtige Person vorkam. Ein recht angenehmes Gefühl! Halliday erklärte:

"Also du bleibst jetzt da und gehst mit uns baden. Bleib doch hier über Nacht."

"Ja, tun Sie's doch!"

Ashurst aber schüttelte wieder lächelnd den Kopf. Dann unterzogen sie ihn unversehens einem Verhör über seine körperlichen Leistungen. Es ergab sich, daß er an dem Wettrudern und den Fußballkämpfen seines 'College' teilgenommen und im Wettlauf gesiegt hatte. Als er sich vom Tisch erhob, umgab ihn bereits der Glorienschein eines Helden. Die beiden kleinen Mädchen bestanden darauf, er müsse 'ihre' Höhle besichtigen, und nahmen ihn, geschwätzig wie Elstern, in die Mitte; Stella und der Bruder folgten. In der Höhle, die feucht und dunkel war wie andre Höhlen auch, gab es eine Sehenswürdigkeit: einen Tümpel, und in diesem Tümpel vielleicht Lebewesen, die man fangen und in Flaschen aufbewahren konnte. Freda und Sabina forderten Ashurst auf, zu ihnen in den Tümpel zu treten und beim Wasserschöpfen mitzuhelfen; sie trugen ihre schlanken braunen Beine bloß, und auch Ashurst zog schnell Schuhe und Socken aus. Einem Menschen mit Schönheitssinn vergeht die Zeit rasch, wenn herzige Kinder in einem Wasser plantschen und eine junge Diana jedes Beutestück bewundernd in Empfang nimmt. Ashurst hatte nie viel auf die Zeit geachtet. Er erschrak heftig, als er seine Uhr hervorzog und sah, daß es schon längst drei Uhr vorbei war. Unmöglich, heute noch Geld zu beheben, er würde die Bank nicht mehr offen finden. Die kleinen Mädchen hatten sein Mienenspiel verfolgt und riefen sofort:

"Hurra! jetzt müssen Sie hierbleiben!"

Ashurst gab keine Antwort. Wieder sah er Megans Antlitz vor sich, als er ihr des Morgens zugeflüstert hatte: 'Liebste, ich fahre nach Torquay, um alles zu besorgen; am Abend bin ich zurück. Wenn das Wetter schön ist, können wir schon heute nacht fort. Halte dich bereit.' Wieder sah er sie zittern und atemlos seinen Worten lauschen. Was würde sie nun denken? Dann nahm er sich zusammen - er fühlte plötzlich den ruhig forschenden Blick dieses großen, blonden jungen Mädchens, das dianengleich am Wasser stand; ihre blauen Augen unter den etwas schräg laufenden Brauen sahn verwundert drein. Wenn sie wüßten, was er im Schilde führte - wenn sie wüßten, daß er noch in dieser Nacht - -! Er bekäme gewiß nur einen leisen, verächtlichen Ausruf zu hören und stünde bald allein in der Höhle. Mit gemischten Gefühlen, mit Zorn, Kummer und Scham, steckte er die Uhr wieder in die Tasche und sagte kurz:

"Ja, für heute sitz ich fest."

"Hurra, jetzt werden Sie mit uns baden!"

Unmöglich, sich gegen die Freude dieser hübschen Kinder zu wehren, gegen Stellas Lächeln und Hallidays vergnügten Ausruf: "Famos, alter Junge! Ich leih dir die Sachen für die Nacht." Aber wieder fühlte sich Ashurst einen Augenblick von Reue und Sehnsucht gepeinigt und versetzte düster:

"Ich muß telegraphieren."

Sie wurden des Fischens müde und gingen ins Hotel zurück. Ashurst sandte ein Telegramm an Mrs. Narracombe: 'Heute leider verhindert, komme morgen.' Megan würde gewiß einsehn, daß er viel zu erledigen hatte, und es wurde ihm wieder leichter ums Herz. Der Nachmittag war schön und warm, das Meer blau und still, und er schwamm leidenschaftlich gern. Das Zutraun dieser hübschen Kinder schmeichelte ihm, es war eine Freude, die beiden anzuschaun und Stella und Hallidays sonniges Gesicht. Alles hatte den Reiz des Unwirklichen und war doch wieder so natürlich - ein letzter Blick in die gewohnte Welt, ehe er sich Hals über Kopf in sein Abenteuer mit Megan stürzte. Er lieh sich einen Schwimmanzug aus und sie machten sich auf den Weg. Er und Halliday entkleideten sich hinter einem Felsen, die drei Mädchen hinter einem andern. Er war als erster im Wasser und schwamm sofort kühn hinaus, er mußte doch seine Kunst beweisen. Als er sich umwandte, sah er Halliday das Ufer entlang schwimmen; die Mädchen sprangen im Wasser herum, tauchten und ließen sich von den kleinen Wellen tragen; er hatte diese Art bisher stets verachtet, nun jedoch fand er sie hübsch und vernünftig, da sie ihm dazu verhalf, als einziger Tiefseefisch zu glänzen. Als er aber näherkam, wußte er nicht recht, ob er als Fremder ihnen bei ihrem Spiel willkommen sei; in der Nähe jener schlanken Nymphe fühlte er sich verlegen. Dann jedoch befahl ihm Sabina, sie das Rückenschwimmen zu lehren, und die beiden kleinen Mädchen nahmen ihn so sehr in Anspruch, daß er sich gar nicht klar wurde, ob Stella sich bereits an seine Gegenwart gewöhnt habe. Plötzlich vernahm er von ihr einen Ausruf des Schreckens. Sie stand bis an die Hüften im Wasser, beugte sich ein wenig vor und wies mit ihren schlanken weißen Armen nach einer Stelle im Meer; ihr feuchtes Gesicht, ihre in der Sonne blinzelnden Augen verrieten Angst.

"Phil! Was ist los? Sehn Sie! Dort!"

Ashurst erkannte sofort, daß etwas los war. Ungefähr hundert Meter vom Strand entfernt, schlug Halliday aus Leibeskräften um sich und versuchte krampfhaft, aus dem tiefen Wasser herauszukommen. Plötzlich stieß er einen Schrei aus, warf die Arme in die Höhe und sank. Ashurst sah das Mädchen auf Phil zuschwimmen, rief "Zurück, Stella! Zurück!" und schoß hinaus. Er schwamm so schnell wie noch nie und erreichte Halliday in dem Augenblick, als er wieder in die Höhe kam. Ein Krampf hatte ihn befallen, doch konnte man ihn unschwer ans Ufer bringen, da er sich nicht wehrte. Das Mädchen, das auf Ashursts Geheiß gleich stehngeblieben war, half ihm, als er Grund gewonnen hatte, Phil zu bergen; am Strand beugten sie sich von rechts und links über ihn und rieben ihm die Glieder, während die beiden Kleinen mit erschreckten Mienen zusahn. Bald lächelte Halliday wieder. Es war blödsinnig von ihm gewesen - erklärte er -, einfach blödsinnig! Frank solle ihm nur den Arm reichen, dann könne er ganz gut zu seinen Kleidern gehn. Ashurst reichte ihm den Arm und erblickte dabei Stellas gerötetes, verstörtes Gesicht, das feucht war von Wasser und Tränen. Da dachte er: 'Ich hab sie Stella genannt! Nahm sie es mir übel?'

Während sie sich ankleideten, sagte Halliday ruhig:

"Lieber Junge, du hast mir das Leben gerettet!"

"Quatsch!"

Auch nach dem Ankleiden waren sie noch immer erregt, dann gingen alle zusammen ins Hotel zurück. Halliday begab sich zu Bett, die übrigen nahmen den Tee; nachdem Sabina einige Schnitten Brot mit Marmelade verzehrt hatte, stellte sie fest:

"Sie sind wirklich ein Prachtkerl!" und Freda stimmte zu:

"Wahrhaftig!"

Ashurst sah Stella die Augen niederschlagen; verlegen erhob er sich und trat ans Fenster. Von dort aus vernahm er Sabinas Geflüster: "Wir wollen Blutsbrüderschaft schließen. Freda wo hast Du Dein Messer?" Verstohlen sah er hin und bemerkte, daß jede von Ihnen sich feierlich die Haut ritzte, einen Tropfen Blut herauspreßte und auf ein Stück Papier fallen ließ. Er wandte sich um und wollte zur Tür.

"Nicht so fad sein! Herkommen!" Er wurde an den Armen gepackt und als Gefangener von den beiden kleinen Mädchen zum Tisch zurückgeschleppt. Dort lag ein Blatt Papier und auf dieses Blatt war mit Blut eine Figur gemalt, von der strahlenförmig drei Namen ausgingen: Stella Halliday, Sabina Halliday und Freda Halliday, ebenfalls mit Blut geschrieben. Sabina sagte:

"Das bist du. Jetzt müssen wir Dir einen Kuß geben, verstanden?"

Freda echote:

"Hei! Jawohl!"

Ehe Ashurst entschlüpfen konnte, fuhr ein feuchter Haarschopf über sein Gesicht, er spürte etwas wie einen Kuß oder Biß auf der Nase; dann zwickte ihn jemand in den linken Arm, andre Lippen und Zähnchen streiften seine Wange. Hierauf ward er freigegeben und Freda sagte:

"Jetzt kommst du dran, Stella."

Schüchtern und errötend blickte Ashurst über den Tisch hinüber auf die schüchterne und errötende Stella, Sabina kicherte, Freda schrie:

"Los - nicht das Spiel verderben!"

Ashurst durchzuckte ein seltsames, verschämtes Verlangen; dann befahl er ruhig:

"Schweigt, ihr kleinen Teufel!"

Wieder kicherte Sabina.

"Gut, sie soll also ihre Hand küssen und die kannst du dann an deine schiefe Nasenspitze drücken!"

Zu seinem Staunen küßte Stella wirklich ihre Hand und streckte sie ihm entgegen. Feierlich ergriff er diese kühle, schlanke Hand und führte sie an die Wange. Die beiden Kleinen klatschten in die Hände und Freda erklärte:

"So, jetzt sind wir jederzeit verpflichtet, dir das Leben zu retten; erledigt. Kann ich noch eine Tasse Tee haben, Stella, aber nicht so abscheulich schwach?"

Sie setzten sich wieder an den Tisch, Ashurst faltete den Zettel zusammen und steckte ihn in die Tasche. Hierauf wurden die Annehmlichkeiten der Masern erörtert: Mandarinen essen, Honig schlecken, schulfreie Tage und so weiter. Ashurst hörte schweigend zu und wechselte freundschaftliche Blicke mit Stella, deren Gesicht wieder blühend und sonnverbrannt aussah. Es tat ihm wohl, daß diese fröhlichen Menschen ihn so herzlich aufnahmen, und mit lebhaftem Interesse betrachtete er ihre Mienen. Nach dem Tee, während die beiden kleinen Mädchen Seetang preßten, saß er plaudernd bei Stella im Erkerfenster und besah ihre Aquarellskizzen. Das Ganze glich einem schönen Traum; die Zeit stand still, nichts geschah, das Wirkliche mit seiner Wichtigkeit schien ausgeschaltet. Morgen würde er zu Megan zurückkehren, und von allem, was ihm dieser Tag gebracht, würde ihm nichts bleiben als der mit dem Blut der Kinder beschriebene Zettel in seiner Tasche. Kinder! Stella war doch kaum mehr ein Kind - sie war ebenso alt wie Megan! Sobald er schwieg, schien ihr Geplauder lebhafter zu werden - sie sprach schnell, ein wenig trocken und schüchtern, doch freundlich; in ihrem Wesen lag etwas Kühles, Jungfräuliches, Zurückhaltendes. Beim Dinner, zu dem Halliday nicht erschien, weil er zu viel Meerwasser geschluckt hatte, erklärte Sabina:

"Von nun an nenn ich dich Frank."

Freda echote:

"Frank, Frank, Franky."

Ashurst verbeugte sich lächelnd.

"Jedesmal, wenn Stella dich Mr. Ashurst nennt, muß sie ein Pfand geben. Lächerlich, dich so anzureden!"

Ashurst warf einen Blick auf Stella, die langsam errötete. Sabina kicherte, Freda rief:

"Seht doch, puterrot wird sie - ha!"

Ashurst griff nach links und rechts und packte mit jeder Hand einen blonden Schopf.

"Gebt acht, ihr beiden!" mahnte er. "Laßt Stella in Ruh, oder ich binde euch aneinander!"

Freda quietschte:

"Au! Du bist ein Scheusal!"

Sabina murmelte vorsichtig:

"Du nennst sie Stella!"

"Warum nicht? Es ist ein hübscher Name!"

"Na gut, wir erlauben es dir."

Ashurst ließ ihre Schöpfe los. Stella! Wie würde sie ihn jetzt nennen - nach dieser Szene? Aber sie vermied jede Anrede; erst vor dem Schlafengehn sagte er mit Nachdruck:

"Gute Nacht, Stella!"

"Gute Nacht, Mr. - - Gute Nacht, Frank! Du hast dich großartig benommen!"

"Ach was - Unsinn!"

Ihre Hand drückte plötzlich warm die seine und ließ sie ebenso plötzlich wieder los.

Ashurst blieb unbeweglich im leeren Speisezimmer stehn. Erst gestern hatte er unter den frischen Blüten des Apfelbaums Megan an sich gedrückt und ihr die Augen und Lippen geküßt. Und bei dieser Erinnerung stockte ihm auf einmal der Atem. Heute nacht hätte sein Leben mit ihr beginnen sollen, mit ihr, die nichts anderes begehrte, als bei ihm zu sein. Und nun mußte er sie vierundzwanzig Stunden und noch mehr missen, weil er nicht rechtzeitig auf die Uhr geblickt! Warum hatte er gerade jetzt mit diesen unschuldsvollen Menschenkindern Freundschaft geschlossen, jetzt da er im Begriff stand, der Unschuld Lebwohl zu sagen? 'Aber ich will sie doch heiraten', dachte er, 'ich hab es ihr ja versprochen!'

Er zündete eine Kerze an und ging in sein Zimmer, das neben Hallidays Schlafraum lag. Im Vorbeigehn vernahm er die Stimme seines Freundes:

"Bist du es, lieber Junge? Komm doch herein."

Er saß im Bett, las und rauchte Pfeife.

"Setz dich für eine Weile."

Ashurst setzte sich ans offne Fenster.

"Weißt du, ich hab über die Sache von heute nachgedacht", sagte Halliday unvermittelt. "In einem solchen Augenblick, heißt es, sieht man sein ganzes Leben an sich vorübergehn. Ich hab es nicht gesehn. Wahrscheinlich war dieser Moment noch nicht gekommen."

"Woran dachtest du denn?"

Halliday schwieg einige Zeit, dann erwiderte er gelassen:

"Ach ja - mir fiel doch etwas ein - eigentlich seltsam - ein Mädchen in Cambridge, ich hätte sie - na, du verstehst schon; ich war froh, daß ich sie nicht auf dem Gewissen hatte. Jedenfalls danke ich es dir, alter Knabe, daß ich noch hier bin; ohne dich wär ich jetzt bereits im tiefen Dunkel. Kein Bett mehr, keine Pfeife, überhaupt nichts mehr. Was, meinst du, geschieht mit uns?"

Ashurst murmelte:

"Wir verlöschen wie Flammen, denk ich."

"Ganz?"

"Vielleicht flackern und glimmen wir noch ein wenig."

"Hm! Eine düstere Aussicht. Übrigens, meine kleinen Schwestern waren hoffentlich nett zu dir?"

"Riesig nett."

Halliday legte die Pfeife weg, verschränkte die Arme im Nacken und kehrte das Gesicht dem Fenster zu. "Die Mädel sind nicht übel", meinte er.

Wie Ashurst seinen Freund so lächelnd daliegen sah, und der Kerzenschein auf seinem Gesicht spielte, überlief ihn ein Schauer. Wahrhaftig! Er hätte jetzt daliegen können ohne Lächeln, dieser sonnige Blick für immer erloschen! Oder er würde vielleicht gar nicht hier liegen, sondern im Sand am Grunde des Meeres und auf die Auferstehung warten - am Jüngsten Tag. Und plötzlich schien ihm Hallidays Lächeln wie ein Wunder, das den ganzen Unterschied zwischen Leben und Tod offenbarte: der kleine Lebensfunke. Was sind wir ohne ihn! Er erhob sich und sagte leise:

"Na, jetzt solltest du schlafen. Soll ich das Licht ausblasen?"

Halliday ergriff seine Hand.

"Weißt du, ich finde nicht die Worte - aber es ist gewiß abscheulich, tot zu sein. Gute Nacht, alter Junge!"

Ergriffen, aufgewühlt drückte ihm Ashurst die Hand und ging hinunter. Die Haustür war offen und er trat auf den Rasen vor die Häusergruppe hinaus. Am blauschwarzen Himmel glänzten die Sterne und ihr Licht verlieh dem Flieder jene geheimnisvolle Farbe, die Blumen bei Nacht eigen ist. Ashurst preßte das Gesicht an einen Zweig; und vor seinen geschloßnen Augen tauchte ein Bild auf, Megan, die das braune Wachtelhündchen an die Brust drückte. 'Mir fiel ein Mädchen ein, ich hätte sie - na, du verstehst schon; ich war froh, daß ich sie nicht auf dem Gewissen hatte!' Hastig wandte er sich vom Flieder fort und begann über den Rasen zu schreiten, auf und nieder wie ein grauer Schatten, der nur dann körperhaft zu werden schien, wenn er beim Umkehren in den Lichtkreis einer Laterne trat. Er stand wieder mit Megan unter dem flirrenden Schimmer der weißen Blüten, plätschernd floß der Bach vorbei und stahlblau glänzte das Spiegelbild des Monds im Wasser. Wieder sah er ihr unschuldiges Antlitz in Demut und Hingabe zu sich emporgewandt, bedeckte es mit heißen Küssen, wieder erlag er in Hangen und Bangen dem heidnischen Zauber und der Schönheit jener Nacht. Im Schatten des Flieders blieb er nochmals stehn. Hier war das Meer die Stimme der Nacht, nicht der Bach, das Meer mit seinem Seufzen und Rauschen; kein Vogellaut, kein Eulenschrei, keiner Nachtschwalbe Ruf war zu hören, nur Klaviergeklimper. Fliederduft erfüllte die Lüfte, scharf und weiß hob sich der Halbkreis des Häuserblocks vom Himmel ab. Hoch oben im Hotel war ein Fenster beleuchtet, hinter dem Rollvorhang bewegte sich ein Schatten. Da geriet er in den wüstesten Wirbel seltsamer verworrener Gefühle, es war, als drehe sich jedes einzelne im Kreis herum, als suchten Frühling und Liebe in wirrem Bangen einen Weg und fänden ihn versperrt. Dieses Mädchen, das ihn Frank genannt und ihm so warm und rasch die Hand gedrückt, dieses kühle, reine Geschöpf - was würde sie von solch wilder, unerlaubter Liebe denken? Er sank auf den Rasen und saß, den Rücken dem Hause zugekehrt, mit gekreuzten Beinen da, regungslos wie eine Buddha-Statue. Wollte er wirklich die Unschuld zerstören, stehlen wie ein Dieb? Den Duft einer wilden Blume atmen und sie dann vielleicht wegwerfen? 'Mir fiel ein Mädchen in Cambridge ein, ich hätte sie - na, du verstehst schon!' Er preßte beide Handflächen aufs Gras; es war noch warm, bloß ein wenig taufeucht; weich und angenehm fühlte es sich an. 'Was hab ich nur vor?' ging es ihm durch den Kopf. Vielleicht stand Megan gerade am Fenster, blickte zu den Apfelblüten hinüber und dachte an ihn. Arme kleine Megan! 'Doch warum nicht?' fragte er sich, 'ich liebe sie! Aber - liebe ich sie denn wirklich? Oder will ich sie nur darum haben, weil sie so schön ist und mich so liebt? Was hab ich da nur vor?' Noch immer Klaviergeklimper und droben die blinkenden Sterne; und wie im Bann eines Zaubers starrte Ashurst hinaus auf die dunkle See. Endlich erhob er sich steif und fröstelnd. Nun brannte hinter keinem Fenster mehr Licht. Er ging zu Bett.



VIII

Lautes Pochen an der Tür weckte ihn aus tiefem, traumlosem Schlaf. Eine schrille Stimme rief:

"Hallo! Das Frühstück ist fertig."

Er sprang auf. Wo war er nur? Ja richtig!

Sie waren schon bei der Orangenmarmelade und er setzte sich auf den leeren Platz zwischen Stella und Sabina; die Kleine sah ihn eine Weile prüfend an und sagte:

"Bitte eil dich! Um halb zehn brechen wir auf."

"Wir fahren nach Berry Head, alter Knabe, du mußt unbedingt mithalten!"

Ashurst dachte: 'Mithalten! Ausgeschlossen. Ich werde alles besorgen und zurückfahren.'

Er blickte Stella an. Sie sagte rasch:

"Komm doch mit!"

Sabina stimmte ein:

"Ohne dich wär's gar kein Spaß."

Freda stand auf und stellte sich hinter seinen Stuhl.

"Du wirst mitkommen, sonst pack ich dich beim Schopf!"

Ashurst dachte: 'Gut - einen Tag noch - einen Tag zum Überlegen!' Er sagte:

"Na schön! Nicht nötig, mir die Mähne zu zausen!"

"Hurra!"

Auf dem Bahnhof schrieb er ein zweites Telegramm an Mrs. Narracombe, dann - zerriß er es, er wußte nicht, warum. Von Brixham fuhren sie in einem leichten kleinen Wagen. Er saß zwischen Freda und Sabina eingezwängt, seine Knie kamen mit Stellas Knie in Berührung und sie spielten 'Alles, was Flügel hat, fliegt.' Seine düstere Stimmung wich bald frohem Übermut. An diesem einen Tag zum Überdenken hatte er zum Denken keine Lust! Sie liefen und rangen um die Wette, ruderten hinaus - zum Baden war niemand heute aufgelegt - , stimmten Rundgesänge an, begannen Spiele und aßen den ganzen Proviant auf. Bei der Heimfahrt schliefen die kleinen Mädchen an ihn gelehnt ein, und wieder kamen in dem engen kleinen Wagen seine Knie mit Stellas Knie in Berührung. Es schien ihm ganz unglaublich, daß er noch vor dreißig Stunden keinen dieser Blondköpfe gekannt hatte. In der Eisenbahn unterhielt er sich mit Stella über Poesie, erfuhr ihre Lieblingsdichter und nannte ihr mit einem wohligen Gefühl der Überlegenheit die seinen. Plötzlich sagte sie leise:

"Phil behauptet, du leugnest das Fortleben nach dem Tode. Frank, das finde ich entsetzlich."

Ashurst murmelte verdutzt:

"Ich leugne es nicht, aber ich glaube auch nicht daran - ich weiß es ganz einfach nicht."

Rasch gab sie zurück:

"Diesen Zweifel könnte ich nicht ertragen. Welchen Zweck hätte dann unser Leben?"

Sie zog die schönen schrägen Brauen in die Höhe; Ashurst bemerkte es und sagte:

"Ich glaube nicht, daß man darum etwas glauben muß, weil man es wünscht."

"Welchen Sinn hätte aber der Wunsch nach einem Fortleben, wenn es keines gäbe?"

Und Stella sah ihm voll ins Gesicht.

Er wollte sie nicht verletzen, fuhr jedoch fort, um ihr seine Überlegenheit zu beweisen:

"Solange man lebt, wünscht man natürlich ewig weiterzuleben; das gehört nun einmal zum Leben; mehr dürfte man daraus nicht schließen."

"Du glaubst also nicht an die Bibel?"

Ashurst dachte: 'Jetzt werd ich sie gewiß kränken!'

"Ich glaube an die Bergpredigt, denn sie ist schön und für alle Zeit gültig."

"Aber glaubst du auch an die Göttlichkeit Christi?"

Er schüttelte den Kopf.

Rasch kehrte sie das Gesicht dem Fenster zu; da kam ihm plötzlich Megans Gebet in den Sinn, das er durch den kleinen Nick erfahren: 'Gott segne uns alle und auch Mr. Asher!' Wer würde je wieder so für ihn beten wie sie? Sie, die gewiß in diesem Augenblick seiner harrte - ob er wohl nicht den Heckenweg herabkäme. Da fuhr es ihm durch den Kopf: 'Was für ein Schurke bin ich doch!'

Während des ganzen Abends kam ihm immer wieder dieser Gedanke, aber, wie es schon zu gehen pflegt, wurde er jedesmal weniger quälend, bis ihm schließlich seine Schurkerei fast natürlich schien. Und - seltsam! - er wußte nicht recht, ob es schurkisch sei, zu Megan zurückzukehren, oder ihr fernzubleiben.

Sie spielten Karten, bis die Kinder zu Bett geschickt wurden; dann setzte sich Stella ans Klavier. Vom Fenstersitz aus, wo es beinahe dunkel war, betrachtete Ashurst ihr Antlitz im Kerzenschein - den Blondkopf auf dem schlanken weißen Hals, der sich im Takt neigte. Sie spielte geläufig, aber ziemlich ausdruckslos; doch welchen Anblick sie bot - wie ein blasser Heiligenschein schimmerte das goldne Haar um ihr Haupt. Wer hätte beim Anblick dieses weißgekleideten Mädchens mit dem sich wiegenden Engelskopf begehrliche Gedanken oder wilde Wünsche hegen können? Sie spielte ein Stück von Schumann, es hieß 'Warum?'. Dann brachte Halliday seine Flöte, und der Zauber war gebrochen. Hierauf mußte Ashurst einige Schumannlieder singen und Stella spielte die Begleitung, doch mitten in dem Lied 'Ich grolle nicht' platzten zwei kleine Gestalten in blauen Schlafröcken herein und krochen unter das Klavier. Der Abend endete in einem Wirrwarr, Sabina nannte dies einen 'famosen Ulk'.

In dieser Nacht schlief Ashurst beinahe gar nicht. Jetzt dachte er nur zu gründlich nach und wälzte sich unruhig hin und her. Das vertrauliche Zusammenleben mit den Hallidays, der ganze Einfluß dieser Atmosphäre zwangen ihn seit zwei Tagen so sehr in ihren Bann, daß ihm der Bauernhof und Megan - ja, auch Megan - unwirklich schienen. Hatte er denn wirklich eine Liebschaft mit ihr begonnen, ihr wirklich versprochen, sie zu sich zu nehmen, mit ihr zu leben? Der Frühling, die Nacht, die Apfelblüten hatten ihn behext! Dieser Mairausch mußte sie beide ins Verderben stürzen! Nun graute ihm schier vor dem Gedanken, daß er dieses schlichte, noch nicht achtzehnjährige Kind zu seiner Geliebten machen wollte, und doch trieb ihm die Erinnerung an sie auch jetzt noch das Blut wild und heiß durch die Adern. Er murmelte vor sich hin: "Was hab ich nur getan - entsetzlich!" Noch immer klangen Schumanns Melodien in ihm nach und mischten sich in seine Fieberträume, noch immer sah er Stellas kühle weiße Erscheinung vor sich, ihr blondes Haar und ihr geneigtes Haupt mit dem seltsamen blassen Heiligenschein. 'Ich war entschieden verrückt - bin es noch!' dachte er. 'Was ist nur in mich gefahren? Arme kleine Megan.' 'Gott segne uns alle und auch Mr. Asher!'. 'Ich möchte bei Ihnen sein - mehr will ich nicht!' Er grub das Gesicht in die Kissen und unterdrückte ein Schluchzen. Nicht mehr zu ihr zurückkehren war entsetzlich, weit entsetzlicher aber war's, zurückzukehren!

Gemütsbewegungen bereiten jungen Leuten, die ihnen freien Lauf lassen, nicht gar lange Qualen. Und so schlief Ashurst mit dem Gedanken ein: 'Was ist denn eigentlich geschehn - ein paar Küsse - in einem Monat ist alles vergessen!'

Am nächsten Morgen behob er das Geld auf der Bank, doch den Kaufladen, in dem er das taubengraue Kleid besehen hatte, mied er wie die Pest; statt dessen erstand er einige Gebrauchsgegenstände. Den ganzen Tag verbrachte er in seltsamer Stimmung, nährte beständig einen Groll gegen sich selbst. Die Unrast der beiden letzten Tage wich einem Gefühl der Leere; geschwunden war alles leidenschaftliche Verlangen, ausgelöscht durch seine Tränen. Nach dem Tee legte Stella ein Buch neben seinen Teller und fragte schüchtern:

"Hast du das gelesen, Frank?"

Es war Farrars 'Leben Christi'. Ashurst lächelte. Ihre Sorge um seinen Glauben schien ihm komisch, doch zugleich rührend. Vielleicht wirkte sie auch ansteckend, denn Ashurst empfand nun den lebhaften Wunsch, sich zu rechtfertigen, ja wohl gar, Stella zu seiner Ansicht zu bekehren. Und des Abends, als Halliday und die Kinder ihre Fischernetze flickten, erklärte er:

"Soweit ich sehen kann, steckt hinter jedem Dogmenglauben immer der Gedanke an Belohnung - an den Gewinn, den die gute Tat einträgt; als ob man nur Vorteile erbitten wollte. Meines Erachtens beruht diese ganze Moral nur auf Angst."

Stella saß auf dem Sofa und knüpfte aus einem Stück Bindfaden Weberknoten. Rasch blickte sie auf:

"Ich glaube, sie geht viel tiefer."

Wieder trieb es Ashurst, ihr seine Überlegenheit zu zeigen.

"Das glaubst du nur", gab er zurück; "dennoch ist nichts so tief in uns verwurzelt wie dieses 'Quid pro quo'! Nur ist es ungemein schwer, der Sache auf den Grund zu kommen."

Verwirrt zog sie die Brauen in die Höhe.

"Mir scheint, ich kann dir nicht recht folgen."

Eigensinnig fuhr er fort:

"Denk nur einmal ernstlich nach und du wirst finden, daß gerade die Leute am frömmsten sind, denen das Leben die Erfüllung so mancher Wünsche versagt. Ich glaube, daß man gut sein soll, weil das Gute seinen Lohn in sich trägt."

"Dann glaubst du also doch, daß man gut sein soll?"

Wie reizend sie jetzt aussah - es war nicht schwer, zu ihr gut zu sein! Er nickte und bat:

"Zeig mir doch, wie man diesen Knoten macht!"

Wie dann ihre Finger beim Hantieren mit dem Faden die seinen berührten, fühlte er sich besänftigt, ja glücklich. Und als er zu Bett ging, überließ er sich mit Absicht dem Gedanken an sie, hüllte sich in ihre kühle, schwesterliche Reinheit wie in ein schützendes Gewand.

Am nächsten Tag erfuhr er, daß man mit der Eisenbahn nach Totnes fahren und im Berry Pomeroy Schloß ein Picknick abhalten wolle. Immer noch fest entschlossen, keinen Gedanken an die Vergangenheit aufkommen zu lassen, nahm er seinen Platz neben Halliday auf dem Rücksitz des Landauers ein. Plötzlich schlug ihm das Herz zum Zerspringen: während sie die Strandpromenade entlang fuhren, kurz vor der Bahnhofstraße, erblickte er - Megan, Megan selbst dort drüben auf dem Fußweg in ihrem abgetragenen Rock, der alten Jacke und Tellermütze, wie sie jedem Vorübergehenden ins Gesicht sah. Instinktiv fuhr er sich mit der Hand ans Gesicht, als wollte er sich Staub aus den Augen wischen. Aber zwischen den Fingern hindurch sah er sie noch immer dort gehn, nicht mit dem festen Schritt eines Landmädchens wie sonst, nein - unsicher, verstört, mitleiderregend, wie ein kleiner Hund, der seinen Herrn verloren hat und nicht weiß, ob er weiterlaufen oder umkehren, wohin er sich wenden soll. Wie war sie nur hierhergekommen? Welche Ausrede hatte sie ersonnen, um in die Stadt zu gehn? Was erhoffte sie sich davon? Doch mit jeder Umdrehung der Räder, die ihn von ihr forttrugen, geriet sein Herz in stets wildern Aufruhr, hieß ihn den Wagen anhalten, aussteigen und zu ihr hinübereilen. Als der Landauer in die Bahnhofstraße einbog, ertrug es Ashurst nicht länger, öffnete den Wagenschlag und stammelte: "Ich hab etwas vergessen! Fahrt weiter, wartet nicht auf mich! Ich komme mit dem nächsten Zug nach und treffe euch im Schloß!" Er sprang hinaus, stolperte, gewann jedoch durch eine schnelle Wendung das Gleichgewicht wieder; während der Wagen mit den erstaunten Hallidays davonrollte, eilte er weiter.

Von der Ecke aus konnte er Megan gerade noch erblicken, sie war weit voraus. Er lief ein Stück Wegs, hielt dann plötzlich inne und schlug seine gewöhnliche Gangart ein. Mit jedem Schritt, der ihn von den Hallidays entfernte und Megan näherbrachte, ging er langsamer und langsamer. Was würde es schon ändern, wenn er sie wiedersah? Was tun, um dieser Begegnung und ihren Folgen das Häßliche zu nehmen? Denn nun konnte er es sich nicht länger verhehlen - seit er die Hallidays kennengelernt hatte, war es ihm allmählich klar geworden, daß. er Megan nicht heiraten wollte. Sie würden nur eine Zeitlang zusammen leben, eine Zeit voll wilder Leidenschaft, voll Schwierigkeiten, Gewissensbissen und Sorgen; und dann - nun, dann würde er ihrer müde werden, gerade weil sie sich ihm so ganz hingab, so einfach war, so vertrauensvoll, so taufrisch. Und der Tau - schwindet! Weit vor sich gewahrte er einen kleinen Farbenfleck: das verblichene Blau ihrer Tellermütze, das sich auf und ab bewegte, sooft sie den Leuten ins Gesicht blickte und an den Fenstern der Häuser emporsah. Wer hatte schon je solch grausamen Augenblick erlebt? Was immer er auch tat, er würde ein Schurke sein. Und er stöhnte auf, so daß ein Kindermädchen sich umwandte und ihm nachstarrte. Er sah Megan stehenbleiben, sich an die Kaimauer lehnen und auf das Meer hinausblicken; da blieb auch er stehn. Wahrscheinlich hatte sie noch nie das Meer gesehn und ward selbst jetzt in ihrem Kummer von diesem Anblick mächtig gepackt. 'Ja - sie kennt noch gar nichts!' dachte er; 'alles liegt noch vor ihr. Und für ein paar Wochen der Leidenschaft soll ich ihr Leben zerstören? Ehe ich das tu, häng ich mich lieber auf!'. Und plötzlich sah er wieder Stellas ruhige Augen in die seinen blicken, sah wieder das duftige Haar um ihre Stirn im Winde flattern. Jawohl, heller Wahnsinn wär's, Verzicht auf all das, was er wert hielt, sogar auf die Achtung vor sich selbst. Er machte kehrt und ging rasch zur Station zurück. Da fiel ihm plötzlich wieder dieses arme, verstörte kleine Ding ein, diese Augen, die so angstvoll alle Vorübergehenden prüften; und schweren Herzens wandte er sich noch einmal dem Meere zu. Die Mütze war nicht mehr zu sehn, der kleine Farbenfleck war im Strom der Leute, die mittags den Strand belebten, verschwunden. Und in leidenschaftlichem Verlangen stürmte er vorwärts mit der Angst eines Menschen, dem das Leben etwas Wertvolles zu entreißen droht. Megan war nirgends mehr zu sehn; eine halbe Stunde lang suchte er nach ihr, dann warf er sich hin, das Gesicht dem Sande zugekehrt. Er wußte wohl, wenn er sie wiederfinden wollte, brauchte er nur zum Bahnhof zu gehn und dort zu warten, bis sie das fruchtlose Suchen aufgab, um nach Hause zu fahren; oder er könnte selbst zum Bauernhof zurückreisen und sie bei ihrer Rückkehr dort finden. Aber kraftlos lag er im Sande und um ihn her spielten unbekümmert Kinder mit Spaten und Eimern. Alles Mitleid mit diesem kleinen, irrenden, suchenden Wesen war nun fast vorbei, verflogen wie die Ritterlichkeit, die er früher für sie empfunden; jetzt brannte ihm nur noch der Rausch des Frühlings und wildes Begehren im Blut. Er lechzte wieder nach ihr, lechzte nach ihren Küssen, ihrem weichen, kleinen Körper, ihrer Hingabe, ihrer unbesonnenen, warmen, heidnischen Liebe; er lechzte wieder nach der trunkenen Freude jener Nacht unter den mondbeglänzten Zweigen des Apfelbaums - all dies begehrte er mit grauenhafter Gier wie der Faun die Nymphe. Das geschwätzige Murmeln des kleinen, glitzernden Forellenbachs, die leuchtenden Butterblumen, die Felsen der alten 'wilden Männer', das Hämmern des Grünspechts, Kuckucksruf und Eulenschrei, der rote Mond, der aus dem samtschwarzen Dunkel auf die weiße Blütenlast schien; und am Fenster, gerade außer Reichweite, Megans Antlitz, ganz gelöst in Liebe; und ihr Herz, das an seinem schlug, ihre Lippen, die unter dem Apfelbaum seine Küsse zurückgaben - all das stürmte auf ihn ein. Und doch blieb er regungslos liegen. Welche Macht zwang das Mitleid und fieberhafte Verlangen in ihm nieder und hielt ihn festgebannt im warmen Sande? Drei Blondköpfe - ein helles Gesicht mit freundlichen blaugrauen Augen, eine schlanke Hand, die seine drückte, eine frische Stimme, die ihn beim Namen rief - 'Du glaubst also doch, daß man gut sein soll?' Ja, und diese ganze Atmosphäre, wie die eines alten, mauerumschloßnen englischen Gartens mit Nelken, Kornblumen und Rosen, dem Duft von Flieder und Lavendel - kühl und hell, unberührt, fast heilig -, all das, was er seit den Kindertagen als rein und gut zu werten gewohnt war. Und plötzlich dachte er: 'Am Ende kommt sie wieder an den Strand und sieht mich!' Er stand auf und ging bis zu dem Felsen ganz nahe ans Wasser heran. Dort, wo der Wellenschaum ihm ins Gesicht sprühte, konnte er klarer denken. In den Bauernhof zurückkehren und mit Megan eine Liebschaft beginnen, da draußen in Wald und Heide, dem richtigen Ort für diese wilde Liebe, das war, wie er wußte, ganz und gar unmöglich. Megan, ein Wesen, das nur in die freie Natur taugte, in die Großstadt zu verpflanzen und in ein paar kleine Zimmer einzusperren, das widerstrebte dem Poeten in ihm. Seine Leidenschaft würde ein bloßer Sinnenrausch sein, der bald verflog; gerade durch ihre Einfachheit und den völligen Mangel an Geist und Bildung mußte sie in London sein heimliches Spielzeug werden - weiter nichts. Je länger er so auf dem Felsen saß und die Beine über einer grünlichen Lache baumeln ließ, von der die See zurückebbte, desto klarer wurde ihm dies alles. Und ihm war, als glitten ihre Arme und sie selbst langsam, langsam von ihm ab in diese Lache und sie triebe hinaus ins Meer; und ihr Antlitz, dies verstörte Antlitz, das, von nassem, dunklem Haar umflutet, mit beschwörendem Blick zu ihm emporsah, verfolgte ihn, ließ ihn nicht los, marterte ihn! Endlich stand er auf, erkletterte die niedere Felsklippe und ließ sich in eine geschützte Bucht hinab. Vielleicht fand er im Wasser seine Selbstbeherrschung wieder und kühlte diese Fieberglut! Er warf die Kleider ab und schwamm hinaus. Er wollte sich ermüden, um stumpf und gleichgültig zu werden, und so schwamm er unbesonnen rasch und weit in die See. Dann, ohne besondern Grund, bekam er plötzlich Angst. Wenn er nun die Küste nicht wieder erreichte - wenn ihn die Strömung hinaustrieb - oder wenn ihn ein Krampf befiel wie Halliday! Er wandte sich um und schwamm zurück. Die roten Klippen schienen noch weit. Wenn er ertrank, dann würde man seine Kleider finden. Die Hallidays würden es erfahren, doch Megan vielleicht niemals - auf dem Hofe hielt man keine Zeitung. Und wieder fielen ihm Phil Hallidays Worte ein: 'Ein Mädchen in Cambridge, ich hätte sie - - na, du weißt schon. Wie froh war ich, daß ich sie nicht auf dem Gewissen hatte!' Und in diesem Augenblick sinnloser Angst schwor er sich, daß er Megan nicht auf dem Gewissen haben wolle. Dann verließ ihn die Angst; mit leichter Mühe schwamm er zurück, ließ sich von der Sonne trocknen und legte die Kleider an. Das Herz war ihm noch immer schwer, aber der nagende Kummer geschwunden; er fühlte sich abgekühlt und erfrischt.

Junge Leute wie Ashurst lassen sich nicht allzu sehr vom Mitleid überwältigen. Als er wieder im Wohnzimmer der Hallidays saß und heißhungrig den Tee nahm, kam er sich wie ein Mensch vor, der eben von einem Fieber genesen. Alles erschien ihm nun in neuem Licht; der Tee, die gerösteten Butterbrotscheiben und die Marmelade schmeckten ganz ausgezeichnet; der Tabak hatte noch nie so herrlich geduftet. Er ging im leeren Zimmer umher und blieb ab und zu stehn, um etwas zu berühren oder zu betrachten. Dann ergriff er Stellas Arbeitskorb, befühlte die Garnspulen und einen Zopf aus Strähnen bunter Nähseide und schnupperte an einem kleinen, mit Waldmeister gefüllten Säckchen, das sie dazwischen aufbewahrte. Er setzte sich ans Klavier, schlug mit einem Finger Melodien an und dachte: 'Heut abend wird sie spielen und ich werde ihr dabei zusehn; ihr Anblick tut mir so wohl!' Er ergriff das Buch, das noch immer dort lag, wo Stella es für ihn hingelegt hatte, und versuchte zu lesen. Doch sogleich kam ihm wieder Megans kleine, traurige Gestalt in den Sinn, er stand auf, lehnte sich ans Fenster, lauschte dem Sang der Drosseln in den Gartenanlagen und blickte aufs Meer hinaus, das blau und träumend unter den Bäumen lag. Ein Stubenmädchen kam herein, trug das Teegeschirr fort, aber noch immer stand Ashurst da, er sog die Abendluft ein und gab sich Mühe, an nichts zu denken. Dann sah er die Hallidays durch die Gartentür kommen, Stella ein wenig voraus, dann Phil und die Kinder mit ihren Körben; unwillkürlich trat er vom Fenster fort. Sein wundes, trauriges Herz schrak vor dieser Begegnung zurück und begehrte dennoch Stellas freundlichen Trost, war über ihren Einfluß verdrossen, sehnte sich aber doch nach ihrer kühlen Unschuld und nach der Freude, ihr Antlitz zu beobachten. Von der Wand hinterm Klavier sah er, wie sie eintrat und augenscheinlich etwas enttäuscht stehnblieb; dann erblickte sie ihn und lächelte, ein rasches, strahlendes Lächeln, das Ashurst mit warmer Freude erfüllte und doch auch ein wenig reizte.

"Du bist uns nicht nachgekommen, Frank."

"Nein, es war mir nicht möglich."

"Sieh doch, wir haben so schöne späte Veilchen gefunden!" Sie hielt ihm einen Strauß hin. Ashurst roch daran und unbestimmte Wünsche wurden in ihm wach, schwanden aber sofort wieder, als Megans Bild vor ihm auftauchte, wie sie mit angstvoller Miene die Gesichter der Vorübergehenden musterte.

Ashurst sagte kurz: "Reizend!" und wandte sich ab. Er ging in sein Zimmer hinauf; eine Begegnung mit den Kindern, die eben die Treppe emporkamen, vermied er, warf sich aufs Bett und barg das Gesicht in den gekreuzten Armen. Die Würfel waren gefallen, er hatte Megan aufgegeben! Diese Erkenntnis erfüllte ihn mit Haß gegen sich selbst, ja fast auch gegen die Hallidays und ihre gesunde Atmosphäre eines glücklichen englischen Familienlebens. Warum mußten sie ihm gerade hier begegnen, um seine erste Liebe zu zerstören und ihm zu zeigen, daß er nichts andres plane als eine gemeine Verführung? Wie kam Stella dazu, ihm in ihrer scheuen blonden Schönheit die Gewißheit zu geben, daß er Megan niemals heiraten würde? Warum hatte sie ihm alles verdorben? Jetzt war jene wohl wieder auf dem Heimweg, erschöpft von ihrem jammervollen Suchen - das arme, kleine Ding! -, und hoffte vielleicht noch immer, ihn bei ihrer Rückkehr anzutreffen. Ashurst biß in seinen Ärmel, um ein Stöhnen der Sehnsucht und Reue zu ersticken. Schweigend und verdrossen ging er zum Abendessen und steckte mit seiner üblen Laune sogar die Kinder an. Ein trübseliger Abend, alle waren müde und verstimmt. Mehrmals fing er einen erstaunten Blick Stellas auf; sie schien gekränkt, und das war ihm in seinem Mißmut eben recht. Er schlief elend, stand sehr zeitig auf und wanderte hinaus, zum Strand hinab. Hier, wo er allein war mit dem heiter-stillen, blauen, sonnbeglänzten Meer, ward ihm das Herz ein wenig leichter. Was war er doch für ein eingebildeter Narr, zu glauben, Megan werde es gar so schwer nehmen! Nach ein oder zwei Wochen hatte sie ihn gewiß fast vergessen! Und er - genoß darum den Lohn der Tugend! Ein musterhafter junger Mann! Wenn Stella es wüßte, sie würde ihn vor Rührung segnen, er hatte ja dem Teufel, an den sie glaubte, so tapfer widerstanden! Er brach in wildes Lachen aus. Doch beim einsamen Flug der Möwen, inmitten des Friedens und der Schönheit von Meer und Himmel fühlte er sich geradezu beschämt. Er nahm ein Bad und ging heim.

In den Gartenanlagen des Hotels saß Stella auf einem Feldsessel und malte. Leise schlich Ashurst an sie heran. Wie blond und anmutig sie aussah, wie sie sich so eifrig vorneigte, den Pinsel hochhielt und ein Auge zukniff, um die Entfernung abzuschätzen.

Er sagte sanft:

"Stella, es tut mir leid, daß ich gestern so abscheulich war."

Erschrocken fuhr sie herum, wurde feuerrot und entgegnete in ihrer raschen Art:

"Oh, das tut nichts. Ich wußte ja, daß etwas los war. Doch unter Freunden schadet das nichts."

Ashurst erwiderte:

"Unter Freunden - das sind wir doch, wie?"

Sie blickte zu ihm auf, nickte heftig und lächelte wieder jenes rasche, strahlende Lächeln, das ihre blitzenden Zähne enthüllte.

Drei Tage später reiste er mit den Hallidays nach London zurück. An den Bauernhof hatte er nicht geschrieben. Was hätte er auch schreiben sollen?

Am letzten Apriltag des nächsten Jahres wurden er und Stella getraut...

Das waren die Erinnerungen, die Ashurst überkamen, als er am Tage seiner silbernen Hochzeit zwischen den Ginsterbüschen an die Mauer gelehnt dasaß. Gerade hier, wo er den Eßkorb ausgepackt hatte, mußte die Stelle sein, wo er Megan zum erstenmal gesehn, hier hatte sich ihre Gestalt vom Himmel abgezeichnet! Welche Kette seltsamer Zufälle! Da fühlte er das Verlangen, den Hang hinabzusteigen und das Gehöft und den Obstgarten wiederzusehn und die Wiese, wo das Zigeunergespenst spukte. Er war ja bald wieder zurück, und Stella brauchte zu ihrer Skizze vermutlich noch eine Stunde.

Wie deutlich ihm alles in Erinnerung geblieben war - die kleine Fichtengruppe auf der Anhöhe und der steile, grasbewachsne Hügel dahinter! An der Hoftür stand er still. Der niedere Steinbau, die Eibenbäume und die blühenden Johannisbeerbüsche, die sich über dem Eingang wölbten - alles ganz unverändert! Sogar der alte grüne Stuhl stand draußen auf dem Gras unter dem Fenster, aus dem sie ihm in jener Nacht den Schlüssel herabgereicht. Dann schritt er den Heckenweg hinab und lehnte sich an die Tür des Obstgartens - ein graues Gerippe aus Holzlatten wie dereinst. Und ein schwarzes Schwein trieb sich dort unter den Bäumen herum. Waren wirklich sechsundzwanzig Jahre verronnen? Oder hatte er geträumt und war nun erwacht, um Megan zu finden, Megan, die unter dem großen Apfelbaum seiner harrte? Unwillkürlich fuhr er sich an den angegrauten Bart und rief sich in die Wirklichkeit zurück. Er öffnete die Gartentür, bahnte sich durch Sauerampfer und Nesseln einen Weg bis zu der Stelle, wo der alte Apfelbaum stand. Unverändert! Ein wenig dichter die graugrüne Flechte auf den Stamm, ein oder zwei verdorrte Äste - sonst alles so, als sei es gestern nacht gewesen, daß er nach Megans Flucht den moosigen Stamm umarmt und den Harzduft eingeatmet hatte, während die Blüten über ihm im Mondlicht zu leben und zu atmen schienen. Schon heute, am letzten Apriltag, kamen einige Knospen zum Vorschein; die Amseln schmetterten ihr Lied, ein Kuckuck rief, die Sonne schien hell und warm. Unfaßbar, wie gleich alles geblieben war, der plätschernde Forellenbach, die Stelle, wo er sich jeden Morgen beim Bade das Wasser über Brust und Hüften gespritzt! Und da drüben, auf der üppigen Wiese die Buchengruppe und der Stein, der Lieblingssitz des Zigeunergespenstes! Und Trauer um die verlorene Jugend, Sehnsucht und das Gefühl, er habe Liebe und Zärtlichkeit achtlos vergeudet, schnürten Ashurst die Kehle zu. Ganz gewiß, in einer solchen Welt voll wilder Schönheit sollte man sich schrankenlos dem seligen Rausch der Liebe hingeben - wie Himmel und Erde! Und dennoch durfte man es nicht!

Er trat an den Rand des Baches, blickte auf die kleine Bucht hinab und dachte: 'Jugend und Frühling! Was ist daraus geworden?'

Dann schritt er in plötzlicher Angst, jemandem zu begegnen, der ihn aus seinen Erinnerungen scheuchen könnte, nachdenklich auf dem Heckenweg zur Straßenkreuzung zurück.

Neben dem Auto stand, auf einen Stock gestützt, ein alter, graubärtiger Taglöhner und unterhielt sich mit dem Chauffeur. Er unterbrach sofort das Gespräch, das er vielleicht für eine Respektlosigkeit gegen Ashurst hielt, griff an den Hut und schickte sich an, den Heckenweg hinabzuhumpeln.

Ashurst wies auf den kleinen grünen Hügel am Kreuzweg. "Können Sie mir sagen, was das ist?"

Der Alte blieb stehn; seine Miene schien zu sagen: 'Gut! Sie sind an den Rechten gekommen!'

"Ein Grab", erklärte er.

"Aber warum just an dieser Stelle?"

Der Greis lächelte. "Mit Verlaub, Herr, das is eine lange Geschichte. Und es is nicht das erstemal, daß ich sie erzähle. Ein Haufen Leute kommt jetzt und fragt, was das für ein Hügel is. Hier in der Gegend nennen wir's das 'Jungferngrab'''.

Ashurst hielt ihm seinen Tabaksbeutel hin. "Stopfen Sie sich eine Pfeife!"

Der alte Mann griff wieder dankend an den Hut und füllte bedächtig seine alte Tonpfeife. Seine von vielen Runzeln umzogenen Augen, die unter buschigen Brauen hervor aufwärts blickten, waren noch immer hell und frisch.

"Wenn Ihr nichts dagegen habt, Herr, setz ich mich nieder - heut spür ich mein Bein." Und er ließ sich auf dem Grabhügel nieder.

"Immer liegt eine Blume auf dem Grab. Und es is auch gar nicht mehr so verlassen, wie es früher einmal war. Heutzutag kommen hübsch viel Leut hier vorbei in Autos und dem andern neumodischen Fuhrwerk. Heut hat sie Gesellschaft da heroben. Die arme Seel hat sich selber umgebracht."

"So!" sagte Ashurst. "Ein Selbstmördergrab am Kreuzweg. Ich wußte nicht, daß dieser Brauch noch immer besteht."

"Ja, aber es is jetzt schon sehr lang her. Damals haben wir einen Pfarrer gehabt, der war recht streng in Glaubenssachen. Wartet, laßt mich nachdenken! Zu Michaeli werden's sechs Jahr, daß ich meine Pfründe hab, und wie es geschehn is, war ich grade fünfzig. Kein lebender Mensch weiß mehr davon als ich. Ganz nah von hier hat sie gewohnt; auf demselben Hof, wo ich gearbeitet hab, bei Mrs. Narracombe - heut gehört er dem Nick Narracombe. Manchmal helf ich dort jetzt auch noch mit."

Ashurst, der an der Tür lehnte und seine Pfeife angezündet hatte, hielt auch, nachdem das Streichholz längst ausgegangen war, noch immer die Hände vors Gesicht.

"So?" sagte er und seine Stimme kam ihm selbst fremd und heiser vor.

"So ein Mädel gibt's weit und breit nimmer, armes Ding! Jedesmal, wenn ich hier vorübergeh, leg ich eine Blume hin. Ein schönes und ein gutes Kind war sie, wenn man ihr auch kein Grab bei der Kirche vergönnt hat und auch nicht dort, wo sie selbst begraben sein wollt." Der alte Taglöhner hielt inne und legte seine behaarte, verkrümmte Hand flach auf den Rasen neben die Glockenblumen.

"Nun?" fragte Ashurst.

"Mir scheint", fuhr der Alte fort, "es war, mit Verlaub zu sagen, eine Liebesgeschicht - freilich hat niemand was Bestimmtes gewußt. Wer weiß denn schon, was einem Mädel im Kopf rumspukt - aber so hab ich mir's zusammengereimt." Er fuhr mit der Hand übers Gras. "Ich hab das Mädel gern gehabt - ich glaub, da war schier niemand, der sie nicht gern gehabt hätt. Aber sie hat zu viel Lieb im Herzen gehabt - das war dran schuld, glaub ich." Er blickte auf. Und Ashurst, dessen bärtige Lippen bebten, murmelte wieder: "Nun?"

"Es war im Frühjahr, um dieselbe Zeit wie jetzt, oder etwas später - grad zur Baumblüte - und auf unserm Hof hat ein junger Student gewohnt - ein netter Bursch, hat den Kopf immer hübsch hoch getragen. Ich hab ihn recht gern gehabt und hab nie was Unrechtes zwischen den beiden bemerkt, aber ich mein doch, er hat dem Mädel den Kopf verdreht."

Der Greis nahm die Pfeife aus dem Mund, spuckte aus und fuhr fort:

"Na, und seht Ihr, eines Tags war der Vogel ausgeflogen und kam nimmer zurück. Sie haben dort unten noch immer seinen Rucksack und ein paar Sachen von ihm. Das hat mir nicht in den Kopf wollen - daß er nie drum geschrieben hat. Ashes hat er geheißen, oder so ähnlich."

"Nun?" fragte Ashurst wieder.

Der Alte befeuchtete sich die Lippen.

"Sie hat nie was gesagt, aber von dem Tag an hat sie so verloren dreingeschaut; es war bei ihr nimmer ganz richtig. Grad wie ausgewechselt war sie, so was hab ich mein Lebtag nicht gesehn. Da war noch ein junger Bursch am Hof, Joe Biddaford hat er geheißen, der war völlig vernarrt in sie. Ich glaub, er is ihr oft sehr zuwider geworden mit seiner Lieb. Sie hat dann immer ganz wild dreingesehn. Ab und zu hab ich sie am Abend getroffen, wenn ich die Kälber heimgetrieben hab; dann is sie im Obstgarten gestanden, unter dem großen Apfelbaum, und hat ins Leere gestarrt. Na, hab ich mir gedacht, ich weiß nicht, was mit dir los is, aber wie du ausschaust, wahrhaftig zum Erbarmen!"

Der Alte zündete sich wieder die Pfeife an und tat nachdenklich ein paar Züge.

"Nun und?" fragte Ashurst.

"Ich weiß noch, einmal hab ich zu ihr gesagt: 'Was is los mit dir, Megan?' - Megan David hat sie geheißen, sie war eine Waliserin wie ihre Tante, die alte Mrs. Narracombe. 'Du hast irgendeinen Kummer', sag ich. 'Nein, Jim', sagt sie, 'ich hab keinen.' Du kränkst dich aber doch', sag ich. 'Nein', sagt sie und zwei Tränen rollen ihr übers Gesicht. 'Du weinst ja - sag doch, warum denn?' sag ich. Sie legt die Hand aufs Herz. 'Da tut's mir weh', sagt sie, 'aber bald wird es gut sein', sagt sie. 'Wenn mir was zustoßen sollt, Jim, so will ich unter dem Apfelbaum da begraben sein.' Ich hab gelacht. 'Was soll dir denn zustoßen?' sag ich, 'geh, mach keine Dummheiten.' 'Nein', sagt sie, 'ich werd keine Dummheiten machen.' Na, ich weiß ja, wie die Mädel sind, und hab nicht weiter dran gedacht; zwei Tag später, wie ich abends gegen sechs die Kälber heim treib, seh ich was Schwarzes im Bach, gleich neben dem großen Apfelbaum. Da sag ich mir: 'Is das ein Schwein? Wie kommt nur ein Schwein daher, ins Wasser?' und geh hin und seh nach, was es is."

Der Greis hielt inne. Seine emporblickenden hellen Augen hatten einen leidenden Ausdruck.

"Es is das Mädel, sie liegt in der kleinen Bucht, dort bei dem vorspringenden Felsen, wo ich den jungen Herrn ein- oder zweimal hab baden sehn. Sie liegt auf dem Gesicht im Wasser und grad über ihrem Kopf wachsen Butterblumen. Und wie ich ihr Gesicht so seh, da is es lieb und schön und still wie bei einem kleinen Kind - wunderbar schön is es. Wie der Doktor sie sieht, sagt er: 'Sie muß einen Anfall von Exstasia gehabt haben, sonst hätt sie das in so einer kleinen Wasserlache nie zuweg gebracht.' Und ihr Gesicht hat auch ganz danach ausgesehn. Ich hab hellauf weinen müssen - so schön war's! Damals war's schon Juni, aber sie muß noch irgendwo einen blühenden Apfelzweig gefunden haben, er hat in ihrem Haar gesteckt. Drum mein ich auch, daß sie's in der Exstasia getan hat, so froh is sie in den Tod gegangen. Es war ja nur anderthalb Fuß Wasser, nicht mehr. Aber eins kann ich Euch sagen - auf der Wiese da is es nicht geheuer; das hab ich immer schon gewußt und sie auch; und das redt mir keiner aus. Ich hab ihnen auch erzählt, was sie mir über das Begraben unter dem Apfelbaum erzählt hat. Aber mir scheint, darüber sind die Leute stutzig geworden und auf den Gedanken gekommen, daß sie sich's schon vorher überlegt hat. Und so hat man sie hier oben eingescharrt. Der Pfarrer damals war ein gar strenger Herr."

Wieder fuhr der Alte mit der Hand übers Gras.

"Wirklich wunderbar", meinte er nachdenklich, "was so ein Mädel nicht alles aus Lieb tut. Sie hat wahrhaftig ein Herz voll Lieb gehabt; und das is gebrochen worden, aber etwas Bestimmtes haben wir nie erfahren."

Er blickte auf, als erwarte er Beifall für seine Geschichte, aber Ashurst war an ihm vorübergegangen, als wäre er gar nicht dortgestanden.

Auf dem Hügelkamm, oberhalb des Lunchplatzes, wo ihn niemand sehen konnte, warf er sich mit dem Gesicht zur Erde nieder. Das also war seiner Tugend Lohn! Kypris, die Göttin der Liebe, hatte sich gerächt! Und sein tränenumflorter Blick sah wieder Megans Antlitz mit dem Apfelblütenzweig im nassen, dunklen Haar. 'Was habe ich denn verbrochen?' fragte er sich. 'Was nur?' Doch er fand keine Antwort. Der Frühling mit seinem Sturm der Leidenschaft, seinem Blühn und seinen Liedern - der Frühling in seinem und in Megans Herzen! Suchte die Liebesgöttin nach einem Opfer? So hatte also der griechische Dichter recht - die an die Kypris gerichteten Worte des Chors im 'Hippolytos' waren heute noch so wahr wie je!

"Eros, dein Sohn mit den schillernden Schwingen,
Flattert mit dir über Täler und Hügel,
Flattert mit dir übers brausende Meer.
Goldglanz umflutet ihn, jeden bestrickt er,
Jeden entflammt er zu rasender Gier.
Alles auf Erden im Lichte der Sonne,
Alles bezwingt er, das Wild in den Wäldern,
Zwingt die Geschöpfe im Schoße der See,
Zwingt auch den Menschen. Nur du, Aphrodite,
Du nur allein bist die Herrin der Welt!"

Ja, Euripides hatte recht! Megan! Arme kleine Megan - wie sie über den Hügel herabgekommen war! Wie sie spähend und wartend unter dem alten Apfelbaum gestanden! Megan tot, die Schönheit auf ihrem Angesicht! ...

Eine Stimme sagte:

"Oh, da bist du ja! Sieh doch!"

Ashurst erhob sich, ergriff die Skizze seiner Frau und betrachtete sie schweigend.

"Ist mir der Vordergrund gelungen, Frank?"

"Ja."

"Aber es fehlt noch irgendetwas, nicht?"

Ashurst nickte. Irgendetwas fehlte? Ach ja - der Apfelbaum, das Lied, die goldne Jugend!

Und feierlich berührten seine Lippen ihre Stirn. Es war ja der Tag seiner silbernen Hochzeit.



Beginn